Paulas letzter Sommer | Der letzte Sommer einer Hündin – und die stille Liebe, die im Garten bleibt

Teil 5: Was bleibt

Drei Tage war es still.
Nicht die gewöhnliche Stille eines kleinen Gartens am Stadtrand.
Sondern eine Stille, die in allem lag – in den Blättern, die sich nicht rührten.
Im Wind, der keinen Klang trug.
Und in den Blicken der Tiere, die schwiegen, obwohl sie alles wussten.

Die Bank unter dem Apfelbaum blieb leer.
Marianne ging nur selten dorthin.
Wenn überhaupt, dann früh morgens – mit dem ersten Licht – und nur ganz kurz.
Der Stoffhase lag noch immer dort.
Sein Fell war ausgebleicht vom Regen und der Sonne.
Aber niemand rührte ihn an.


Theo kam jeden Tag.
Er brachte keine Stöcke mehr. Kein Blatt, kein Ball.
Er setzte sich nur neben die Hütte unter der Terrasse, wo Paula zuletzt gelegen hatte.
Und wartete.

Vielleicht auf etwas, das nicht mehr kam.
Vielleicht, weil sein Herz noch nicht wusste, was sein Kopf längst verstanden hatte.


Leni wurde unruhiger.
Sie fraß schlecht, verschwand stundenlang im Gebüsch.
Marianne fand sie eines Abends auf dem Dach des Gartenhäuschens, eingerollt wie ein loses Blatt im Wind.
Sie miaute nicht, sie blickte nur.

Es war ein Blick, der fragte:
„Was machen wir jetzt?“


Karlchen blieb, wo er war.
Am Rand des Beetes, halb unter dem Farn.
Sein Panzer war bedeckt mit Laub und Staub, als hätte der Sommer selbst beschlossen, ihn dort zu bewahren.
Er bewegte sich kaum.
Nur einmal, in der Dämmerung, schob er sich ein paar Zentimeter vor.
In Richtung der Hütte.

Ein einziger Schritt.
Langsam.
Und still.


Am vierten Tag stand Marianne früh auf.
Sie konnte nicht schlafen.
Die Betten waren zu leer, der Körper zu schwer, der Atem zu laut im eigenen Kopf.

Sie ging in die Küche, machte Tee.
Der Blick aus dem Fenster fiel wie jeden Morgen auf den Garten.
Aber heute war etwas anders.

Der Stoffhase war verschwunden.


Sie trat hinaus, noch im Morgenmantel.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen.
Ein milchiger Nebel hing tief zwischen den Bäumen.
Die Bank war leer.
Ganz leer.

Marianne ging langsam über den taufeuchten Rasen, vorbei an der Hütte, am Flieder, hinunter zum Zaun.

Dort, unter einem kleinen Busch, lag er.
Der Hase.

Jemand hatte ihn dorthin getragen.
Nicht weit.
Aber weit genug, dass es eine Geste war.

Sie hob ihn auf.
Das Fell war feucht.
Ein Ohr hing herab, als sei es müde vom Tragen.

Sie wusste sofort, wer es gewesen war.
Theo.


Er saß unter der alten Birke, ganz hinten im Garten.
Als Marianne sich näherte, hob er den Kopf.
Langsam.
Sein Blick war nicht traurig.
Nur leer.
Wie eine Schale, die noch nicht wieder gefüllt war.

Marianne setzte sich zu ihm ins Gras.
Den Stoffhasen auf dem Schoß.

„Du vermisst sie auch, hm?“
Ihre Stimme war rau.
Fast fremd.

Theo legte den Kopf auf ihre Knie.
Sie streichelte ihn.
Und zum ersten Mal seit Paulas Tod – weinte sie.

Nicht laut.
Nicht krampfhaft.
Sondern wie jemand, der etwas freigibt.


Am Nachmittag kam der Sohn.
Jan Kluge.
Mitte dreißig, selten zu Hause, aber nie ganz fern.
Er hatte es am Telefon gehört, drei Tage zu spät, wie so vieles in seinem Leben.

„Ich hätte früher kommen sollen“, sagte er.
Marianne nickte.
Nicht als Antwort – nur als Zeichen, dass sie ihn hörte.

Sie gingen gemeinsam in den Garten.
Setzten sich auf die Bank.
Der Hase lag wieder da – diesmal neben ihnen.

„Sie hat immer auf mich gewartet“, sagte Jan.
„Wenn ich kam, egal wann – sie war an der Tür.“
Er schwieg einen Moment.
Dann:
„Ich hab ihren Blick noch im Kopf. Dieser eine Blick, wenn sie wusste: Jetzt ist alles gut.“

Marianne schloss die Augen.
„Ich auch.“


Sie aßen zusammen.
Nichts Großes.
Kartoffeln mit Quark. Ein paar Gurken.
Ein altes Sommergericht.

Theo lag unter dem Tisch.
Leni sprang auf die Fensterbank.
Karlchen blieb draußen.


In der Nacht träumte Marianne von Wasser.
Ein stiller See, von Nebel überzogen.
Auf dem Ufer lag ein Apfelbaumzweig.
Und darunter – Paula.

Sie sah jung aus.
Schnell.
Wie früher.

Sie blickte nicht zurück.
Sie rannte.


Am nächsten Morgen schrieb Marianne einen Zettel.
Mit feiner, runder Schrift.
Sie hängte ihn ans Gartentor:

„Bitte nicht stören.
Wir trauern.
Aber wir erinnern uns auch.
Kommen Sie gern – aber nur, wenn Sie still sind.“

Der Briefkasten blieb leer.
Und doch kam jeden Tag jemand.


Zuerst eine Nachbarin.
Dann ein alter Freund von früher.
Eine junge Frau mit Kind, die sagte: „Sie kannte meinen Hund. Vor vielen Jahren.“

Alle setzten sich auf die Bank.
Alle streichelten den Hasen.
Keiner blieb lange.

Aber alle kamen in Stille.
Und gingen in Stille.


Theo fing wieder an, zu spielen.
Eines Tages brachte er Leni eine Kastanie.
Sie schlug sie mit der Pfote über die Terrasse.
Dann sprang sie hinterher.

Sie rannten.
Nur kurz.
Aber sie rannten.

Karlchen war inzwischen näher an die Hütte gerückt.
Er lag nun unter dem Flieder, wo Paula oft geschlafen hatte.
Sein Panzer glänzte.
Und einmal, in der Mittagssonne, schien es, als blinzelte er.


Marianne begann zu schreiben.
Nicht Briefe. Keine Gedichte.
Nur Sätze.

Auf kleine Zettel, in ein altes Notizbuch, das sie unter dem Sofa gefunden hatte.

„Du fehlst am meisten, wenn es ganz still ist.“

„Manche Stille ist nicht leer, sondern voll.“

„Ein Tier stirbt nie allein. Es nimmt ein Stück Herz mit.“

„Liebe hört nicht auf – sie ändert nur die Form.“

Sie legte das Buch in die Gartenhütte.
Zwischen Decken, Gießkanne und Werkzeug.
Dort, wo es leise war.


Am letzten Julitag kam ein leichter Wind.
Er trug den Duft von Heu und Ferne.
Ein Versprechen in der Luft.

Marianne saß auf der Bank.
Theo zu ihren Füßen.
Leni auf der Lehne.
Und der Stoffhase – neben ihr.

Sie blickte in den Garten.
Dort, wo der Schatten langsam länger wurde.

„Vielleicht“, sagte sie leise,
„vielleicht war es nicht der letzte Sommer.
Sondern der erste, den ich wirklich gespürt habe.“

Und in diesem Moment
fiel ein Apfel vom Baum.

Nicht laut.
Nur genau zur rechten Zeit.

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