Paulas letzter Sommer | Der letzte Sommer einer Hündin – und die stille Liebe, die im Garten bleibt

Teil 7: Der neue Schritt

Am nächsten Morgen war der Himmel milchig und weich, wie ein Laken, das man zum Lüften über die Wäscheleine gelegt hatte.
Die Sonne hielt sich zurück.
Der Wind roch nach Erde.
Und Marianne stand früh auf.

Nicht aus Unruhe.
Nicht aus Pflicht.
Sondern aus einem kleinen Ziehen im Bauch – wie eine Erinnerung, die wieder fühlen will.


Sie zog sich dieselbe hellblaue Bluse an wie gestern.
Nicht, weil sie nichts anderes hatte.
Sondern, weil etwas daran hängen geblieben war: ein Duft, ein Moment, ein vorsichtiger Blick aus Borus’ Augen.

Sie machte Tee, stellte zwei Näpfe bereit – einen für Theo, wenn er kam. Und einen anderen, leer. Noch.
Dann ging sie in den Garten.
Theo saß bereits unter der Bank.
Er hob nur den Kopf.

Leni kam später.
Sie sprang auf den Terrassentisch, reckte sich, mied den Blickkontakt.
Als Marianne sie streichelte, wich sie nicht aus.
Aber sie blieb auch nicht.

Karlchen war nicht zu sehen.
Doch Marianne wusste, er war da.
Er war immer da.


Um kurz nach zehn fuhr sie los.
Wieder zum kleinen Tierheim am Waldrand.
Der Weg kam ihr kürzer vor als gestern.
Sie bog ab, stieg aus, atmete tief durch.

Lisa wartete nicht am Eingang.
Sie war im Garten, barfuß, mit einem Eimer Wasser in der Hand.

„Er liegt da hinten“, sagte sie nur.
„Er hat heute früh nichts gefressen, aber gewartet. Ganz still.“


Borus lag unter dem Ahorn.
Der Schatten bewegte sich langsam über sein schwarzes Fell, das an manchen Stellen schon graubraun wirkte.
Sein Kopf hob sich, als sie kam.
Kein Bellen. Kein Winseln.
Nur ein Blick.
Und dann: ein einziger Schlag mit dem Schwanz auf den Boden.

Marianne kniete sich neben ihn.
Sie streckte die Hand aus – wieder unter dem Ohr.
Er schloss die Augen.


„Ich weiß nicht, wie viel du brauchst“, flüsterte sie.
„Aber ich habe ein bisschen Platz. Und ein bisschen Zeit. Vielleicht reicht das ja.“

Borus hob den Kopf, leckte ihre Hand – und stand auf.
Langsam.
Steif.
Aber aufrecht.

Er ging ein paar Schritte, dann blieb er stehen.
Drehte sich halb um.
Wartete.


Am Nachmittag saß er auf dem Rücksitz ihres Wagens.
Ein Handtuch lag unter ihm, der Kofferraum offen.
Er hechelte nicht. Er zitterte nicht.
Er blickte.

Und als sie in die Auffahrt zum Haus einbog, blieb sein Blick ruhig.
Kein Suchen. Kein Widerstand.

Marianne öffnete die Tür.
„Willkommen“, sagte sie leise.
Und er stieg aus.
Langsam.
Aber ohne Zögern.


Theo war der Erste, der ihn sah.
Er kam aus dem Schatten der Hütte, blieb stehen, bellte einmal – nicht laut, eher wie ein Gruß.
Dann senkte er den Kopf und ging langsam auf Borus zu.

Borus stand still.
Theo umrundete ihn.
Schnupperte.
Stieß ihn leicht mit der Nase an.

Borus ließ es geschehen.
Dann setzte er sich.

Ein stilles Einvernehmen.
Nicht Freundschaft. Noch nicht.
Aber keine Ablehnung.


Leni kam später.
Vorsichtig, wachsam, ihr Rücken leicht gekrümmt.
Sie sprang auf den Zaun, von dort auf das Dach des Holzschuppens – und beobachtete.
Ihre Augen verengten sich, ihre Ohren bewegten sich leicht.
Doch sie miaute nicht.
Und sie blieb.


Marianne zeigte Borus den Garten.
Nicht mit Worten.
Mit Schritten.

Sie ging vor, er folgte.
Über den Weg aus alten Ziegeln, vorbei am Kompost, durch das kleine Beet mit Lavendel und Thymian.
Dann zur Bank unter dem Apfelbaum.

Dort blieb sie stehen.

Der Stoffhase lag noch da.

Sie setzte sich.
Borus sah sie an.
Dann trat er vor – zögernd – und legte sich zu ihren Füßen.

Lang ausgestreckt.
Einmal seufzend.
Dann still.


Die Tage wurden langsam wieder zu Tagen.
Nicht zu Stunden voller Erinnerung – sondern zu Stunden voller Gegenwart.

Borus war ruhig.
Er schlief viel, stand manchmal schwerfällig auf, lief kleine Runden im Garten.
Er fraß wenig – aber regelmäßig.

Er suchte Mariannes Nähe nicht.
Aber er wich ihr auch nicht aus.
Er war da.
Nicht als Ersatz.
Sondern als Gegenüber.


Theo gewöhnte sich schnell.
Sie gingen nebeneinander. Nicht Schulter an Schulter – aber in Rufweite.
Leni mied ihn in den ersten Tagen.
Dann – eines Abends – lag sie plötzlich auf der Lehne der Bank, als Borus darunter lag.

Sie rührte sich nicht.
Und er auch nicht.

So begannen sie, sich zu dulden.
Vielleicht sogar zu verstehen.


Am fünften Tag kam Jan wieder zu Besuch.
Er brachte Kuchen mit – Aprikose, frisch vom Markt.

„Du hast wieder Gesellschaft“, sagte er, als er Borus sah.
Marianne nickte.
„Nicht wie Paula“, sagte sie.

„Nein“, sagte Jan. „Aber du bist auch nicht mehr wie damals.“

Sie saßen zusammen auf der Bank.
Der Hase lag zwischen ihnen.
Und Borus zu ihren Füßen.


Am Abend, als Jan gegangen war, ging Marianne allein in den Garten.
Sie trug eine Decke über dem Arm.
Eine neue.
Dunkelblau, leicht, aus Baumwolle.

Sie legte sie auf die Bank.
Dann nahm sie den Stoffhasen, hielt ihn einen Moment in der Hand – und legte ihn in den Flieder, unter den Baum, wo Paula zuletzt geschlafen hatte.

„Du bleibst hier“, sagte sie leise.

Dann setzte sie sich.
Borus legte den Kopf auf ihre Füße.

Und über ihnen begann der erste Nachtwind den August zu kühlen.

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