Teil 8: Zeichen im Wind
Der Wind hatte sich verändert.
Er war nicht mehr nur warm, wie in den Wochen zuvor.
Er trug eine andere Note – etwas Trockenes, fast Sprödes.
Die ersten Blätter an der alten Birke färbten sich gelb.
Und morgens roch es manchmal schon nach kalter Erde.
Der August war noch nicht vorbei, aber der Sommer war müde geworden.
Marianne hatte den Garten in den letzten Tagen fast beiläufig gepflegt.
Ein wenig Unkraut hier, ein vertrockneter Stängel dort.
Sie sprach nicht viel – weder mit sich selbst noch mit den Pflanzen.
Doch ihre Hände wussten, was zu tun war.
Am Teich hatte sie neue Seerosen eingesetzt.
Nicht, weil sie blühten.
Sondern weil sie Wurzeln suchten.
Das schien ihr passend.
Borus lebte sich ein.
Leise, behutsam, ohne Spuren zu hinterlassen – und doch mit wachsender Präsenz.
Er suchte sich seine Plätze.
Meistens dort, wo Schatten fiel: unter der Bank, neben dem Kompost, oder direkt an der Hauswand, wo der Putz noch warm vom Tag war.
Er bellte nie.
Nicht einmal im Schlaf.
Aber er war da.
Und manchmal, wenn Marianne aus dem Haus trat, stand er schon da – als hätte er es gewusst.
Eines Abends, während ein schwacher Nieselregen über den Garten zog, geschah etwas, das sie nicht erwartet hatte:
Borus stellte sich unter den Apfelbaum.
Direkt neben die Bank.
Er hob die Schnauze in den Wind.
Schnupperte.
Dann scharrte er mit einer Pfote.
Langsam.
Immer wieder.
Nicht hektisch, nicht unruhig.
Sondern wie jemand, der etwas sucht, das nicht sichtbar ist.
Marianne trat näher.
„Was hast du da?“
Er hörte nicht hin – oder tat so.
Er scharrte weiter.
Dann setzte er sich.
Und blickte sie an.
Es war genau die Stelle, an der Paula begraben lag.
Unter der Bank.
In einer Tiefe, in der der Sommer selbst ein wenig still geworden war.
Marianne spürte einen Kältestrom durch ihren Körper ziehen.
Nicht unangenehm.
Nur ernst.
Sie setzte sich.
Der Regen fiel leicht auf ihre Schultern, auf Borus’ Rücken.
Und sie sagte leise:
„Du weißt es, nicht wahr?“
Borus antwortete nicht.
Aber er blieb.
Wie ein Zeichen.
In dieser Nacht schlief Marianne unruhig.
Nicht wegen eines Traums.
Sondern wegen eines Gedankens, der in ihr keimte.
Am nächsten Morgen – noch vor dem Frühstück – holte sie das alte Holzschild aus der Garage.
Es war verwittert, an den Rändern morsch.
Früher hatte es an der Gartenpforte gehangen:
„Willkommen bei den Kluges – Mensch & Hund seit 1994“
Sie nahm einen Pinsel, Farbe, setzte sich an den Terrassentisch.
Und begann, es zu übermalen.
Langsam.
Strich für Strich.
Am Nachmittag stand es an der Bank.
In die Erde gesteckt, von kleinen Steinen gestützt.
Darauf stand nun, schlicht in weißer Schrift:
„Paulas Platz.
Wer hier sitzt, soll still sein.
Und erinnern.“
Darunter – ein kleiner Abdruck einer Pfote.
Mit Kreide gezeichnet.
Nicht Borus’.
Nicht Paulas.
Ein Symbol.
Mehr nicht.
Theo war der Erste, der sich unter das Schild legte.
Er kam, schnupperte daran, blickte Marianne kurz an – und legte sich in den Schatten der Bank.
Er schlief.
Still, wie immer.
Leni sprang auf die Lehne.
Sie schloss die Augen.
Ein Windstoß fuhr durch das Gras.
Und für einen Moment
war alles da.
Später, als der Tag sich neigte, legte Borus sich neben Theo.
Nicht zu nah – aber in Nähe.
Seine Schnauze ruhte auf den Vorderpfoten.
Und aus seiner Kehle kam ein Laut, den Marianne zum ersten Mal hörte:
Ein tiefes, brummendes Atmen.
Kein Grollen.
Eher ein Ton der Zustimmung.
In den Tagen darauf veränderte sich der Garten.
Nicht sichtbar.
Nicht sofort.
Aber Marianne spürte es.
Vögel kamen näher ans Haus.
Ein Igel zeigte sich am Kompost.
Die Amseln scharrten direkt vor der Terrasse.
Und immer öfter saß sie auf der Bank.
Nicht, um zu weinen.
Sondern um zu sein.
Eines Nachmittags kam Lisa vorbei.
Sie brachte einen Korb mit Tomaten und einen Brief.
„Ich wollte nur mal sehen, wie er sich macht“, sagte sie, als sie Borus sah, der unter der Hecke lag.
„Er hat was an sich“, sagte Marianne.
„Nicht wie Paula. Aber… er gehört hierher.“
Lisa nickte.
Dann reichte sie ihr den Brief.
„Von einer alten Dame aus unserem Heim. Sie hat mitbekommen, dass Borus weg ist. Sie wollte ihn nicht noch einmal sehen – aber sie wollte, dass Sie wissen:
‚Er war der Einzige, bei dem ich nicht reden musste, um gehört zu werden.‘
Vielleicht kann er das noch.“
Marianne faltete den Brief.
Steckte ihn in ihr Notizbuch – dort, wo auch die Sätze über Paula standen.
Sie lächelte.
Nicht traurig.
Nicht erleichtert.
Einfach nur leise.
Am Abend ging sie ein letztes Mal durch den Garten.
Sie goss nicht.
Sie mähte nicht.
Sie sprach nicht.
Sie blieb stehen.
Und sah.
Unter dem Flieder stand Karlchen.
So, als hätte er alles beobachtet.
Als hätte er gewartet, bis etwas wieder ganz war.
Marianne beugte sich hinunter, streichelte über seinen Panzer.
„Du warst der Erste, der geblieben ist“, flüsterte sie.
„Und jetzt weiß ich, warum.“
Karlchen zog sich nicht zurück.
Er stand da.
Fest.
Wie immer.
Bevor sie schlafen ging, nahm sie den Stoffhasen aus dem Flieder.
Nicht, weil sie ihn brauchte.
Sondern weil er nicht mehr bleiben musste.
Sie legte ihn in eine Schublade.
Zwischen Fotos, ein altes Halsband, eine kleine Schale mit hellen Steinen.
Und schloss die Lade.
Nicht, um zu vergessen.
Sondern um zu bewahren.