Paulas letzter Sommer | Der letzte Sommer einer Hündin – und die stille Liebe, die im Garten bleibt

Teil 9: Wenn der Wind umkehrt

Der Sturm kam nicht plötzlich.
Er baute sich langsam auf, wie ein Gedanke, der sich über Tage hinweg in den Raum legt.
Die Blätter an den Bäumen begannen zu flüstern, erst leise, dann dringlicher.
Der Himmel färbte sich grauer, Stunde für Stunde.
Und die Amseln verstummten.

Marianne wusste, wie sich solche Tage anfühlten.
Wie eine alte Wunde, die das Wetter vorausahnt.
Sie zog sich eine Strickjacke über, schloss die Fenster im Obergeschoss und kochte Tee, obwohl es noch Vormittag war.

Im Garten bewegte sich alles – aber nichts lief weg.
Theo lag wie immer unter dem alten Haselnussstrauch.
Leni war auf dem Dachfirst und reckte sich gegen den Wind.
Und Borus lag an der Hütte, mit halb geschlossenen Augen, als würde er den Sturm aus der Erde heraus hören.


Am Nachmittag kam der erste Regen.
Kein Guss – ein gleichmäßiger Schleier, der alles milderte.
Marianne saß auf der Bank unter dem Apfelbaum, eine Decke über den Knien.
Der Stoffhase lag nicht mehr dort.
Aber der Platz war nicht leer.

Borus war zu ihren Füßen.
Und das reichte.

Der Regen prasselte auf die Blätter.
Und Marianne dachte an Paula.
An den ersten Sommerregen, der sie einmal erschreckt hatte, als sie noch jung war.
An das Zittern ihres Fells, an das schnelle Atmen – und wie sie sich damals unter Mariannes Arm gedrängt hatte, so dicht, dass ihr Herz zu hören war.

„Du bist noch hier“, sagte sie leise.
„Aber auf eine andere Weise.“

Borus hob kurz den Kopf.
Ein Blick wie ein Gedanke.
Dann legte er ihn wieder ab.


Kurz nach fünf kam ein Auto.
Marianne hörte das Knirschen auf dem Kiesweg, noch bevor sie das Geräusch verstand.
Es war nicht Jan.
Nicht Lisa.
Nicht der Postbote.

Sie stand auf, ging zur Tür.
Ein alter Mercedes.
Ausgestiegen: ein Mann. Schlank, groß, mit silbernen Haaren und einem Hut, den er in der Hand hielt.
Er wirkte wie jemand, der nicht oft kommt, aber lange zögert, bevor er es tut.

„Frau Kluge?“
Seine Stimme war tief, nicht unangenehm.
„Mein Name ist Friedrich Lenhart. Ich glaube… wir hatten mal einen Moment. Vor sehr vielen Jahren.“

Marianne blinzelte.
Dann trat sie zwei Schritte näher.

„Sie waren der Herr mit dem Schäferhund. Damals… auf dem Wanderweg zwischen Häringen und der Teck.“
„Genau“, sagte er.
„Paula war noch jung. Ich erinnere mich, als wär’s gestern.“


Sie setzten sich auf die Terrasse, unter das Dach.
Der Regen wurde stärker.
Borus lag neben ihnen.
Friedrich streckte die Hand aus.
Borus schnupperte kurz – und erlaubte die Berührung.

„Ich habe von ihrem Tod gehört“, sagte Friedrich leise.
„Ein Bekannter aus Kirchheim hat erzählt, dass Sie Paula in Ihrem Garten begraben haben. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich gekommen bin.“

Marianne nickte.
„Natürlich. Sie hat Sie gemocht.“

„Sie war besonders“, sagte Friedrich.
Dann schwieg er.


Sie tranken Tee.
Und dann erzählte er.

Dass sein Hund, Askan, kurz nach dieser Begegnung gestorben war.
Dass Paula der letzte fremde Hund gewesen sei, mit dem Askan friedlich schnupperte.
„Er war nie einfach“, sagte Friedrich. „Aber bei ihr war er… weich.“

Er zeigte ein Bild aus seiner Brieftasche – abgenutzt, vergilbt.
Ein großer, dunkler Schäferhund mit ernsten Augen.
„Ich hab danach lange keinen Hund mehr gehabt. Zu viel Leere.“

Marianne verstand das.
Mehr als er ahnte.


„Ich hab gehört, Sie haben jetzt wieder einen Begleiter“, sagte Friedrich.

Sie nickte.
„Borus. Alt. Ruhig. Und irgendwie weise.“

Friedrich lächelte.
„Manchmal sind die alten Hunde wie Seelen mit Fell. Sie sagen nicht viel. Aber sie wissen alles.“

Borus blinzelte kurz.
Dann drehte er sich auf die Seite.
Ein Zeichen von Vertrauen.
Oder Müdigkeit.
Oder beidem.


Der Regen ließ langsam nach.
Friedrich stand auf.

„Ich wollte Ihnen nur Danke sagen“, sagte er.
„Für diesen Moment damals. Für Paula. Und… für das Erinnern.“

Marianne begleitete ihn zum Tor.
„Erinnern“, sagte sie leise, „ist leichter, wenn jemand den gleichen Blick teilt.“

Sie reichte ihm die Hand.
Er nahm sie.

Dann ging er.
Langsam.
Ohne sich umzudrehen.


Am Abend saß Marianne wieder auf der Bank.
Die Erde war dunkel vom Regen.
Die Luft duftete nach Moos und Blättern.

Sie hielt ein Foto von Paula in der Hand.
Nicht das Welpenbild.
Ein anderes – eines aus dem letzten Jahr.
Paula unter dem Flieder.
Die Sonne auf dem Fell.
Der Blick still, aber wach.

„Du fehlst nicht mehr schmerzhaft“, sagte sie.
„Du fehlst einfach.“


In der Nacht rüttelte der Wind an den Fensterläden.
Er pfiff durch die Ritzen, trieb Wolken vor sich her.

Marianne schlief wenig.
Nicht aus Angst.
Eher aus Wachheit.

Gegen drei Uhr ging sie in den Garten.
Barfuß, im Nachthemd, eine Taschenlampe in der Hand.

Borus war nicht in der Hütte.
Theo lag auf dem Küchenvorleger.
Leni saß im Fenster.

Sie rief nicht.
Sie wartete.


Dann hörte sie es:
Schritte im Gras.
Langsam, schwer.

Borus kam um die Ecke, triefend vor Nässe.
Etwas im Maul.

Sie trat näher.

Ein Zweig.
Alt, trocken, ein wenig morsch.
Ein Ast vom Apfelbaum.

Er legte ihn vor ihre Füße.
Dann blickte er auf.
Wortlos.

Marianne verstand nicht sofort.
Dann sah sie es:

Der Ast war gebrochen.
Aber er trug noch ein Blatt.
Grün. Lebendig.


Sie hob ihn auf.
Strich mit den Fingern über die Rinde.
Schaute Borus an.

„Du hast’s begriffen, nicht wahr?“

Er setzte sich.
Der Wind fuhr durch sein nasses Fell.
Und in seinen Augen war nichts als Stille.

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