Paulas letzter Sommer | Der letzte Sommer einer Hündin – und die stille Liebe, die im Garten bleibt

Teil 10: Der leere Platz und das, was bleibt

Der Herbst kam mit kühlen Nächten.
Die Wiese morgens silbern vor Reif, das Licht flach, fast zerbrechlich.
Der Apfelbaum warf die letzten Früchte ab – langsam, mit leiser Würde.
Und im Garten stand die Bank unter ihm wie ein Gedanke, den niemand zu Ende gedacht hatte.

Marianne saß dort oft in diesen Tagen.
Manchmal mit einem Buch.
Meistens ohne.
Sie sprach nicht.
Aber sie hörte.

Dem Wind.
Dem Rascheln der Blätter.
Dem unsichtbaren Takt von Zeit.


Borus war ruhiger geworden.
Er ging kürzere Wege, schlief mehr, aber suchte Mariannes Nähe häufiger.
Am Abend lehnte er sich gegen ihr Bein.
Am Morgen folgte er ihr bis in die Küche.

Er bellte nie.
Aber wenn sie sprach, hob er den Kopf.
Nicht immer.
Nur bei bestimmten Worten: „Zeit“, „Stille“, „Bleiben“.

Theo kam seltener.
Vielleicht, weil er spürte, dass der Garten nun anders war.
Nicht weniger offen – aber bewachter.

Leni war oft auf dem Fensterbrett.
Sie miaute nicht mehr, wenn sie in den Garten wollte.
Sie wartete, bis Marianne kam.

Und Karlchen?
Karlchen war da.
Immer.
Einmal sah sie ihn im Regen.
Ein kleiner Panzer zwischen den fallenden Tropfen.
Unbeirrbar.


Am ersten Oktobertag schrieb Marianne einen Brief.
Nicht an Paula.
Nicht an Jan.
An sich selbst.

„Ich habe den Sommer gehalten.
Ich habe den Abschied getragen.
Ich habe den Garten nicht verlassen.

Und ich habe verstanden:

Liebe geht nicht verloren.
Sie zieht nur andere Kreise.“

Sie legte den Brief in das alte Notizbuch.
Schloss es.
Und stellte es ins Bücherregal – zwischen einen Band von Hermann Hesse und ein abgenutztes Gartenlexikon.


Am Abend stand sie vor der Bank.
Sie hatte ein kleines Holzschild gebastelt – aus einem Stück Apfelbaumast, der beim Sturm gefallen war.
Mit einem schlichten Schnitzmesser hatte sie drei Worte hineingearbeitet:

Paula war hier.

Nicht „geboren“, nicht „gestorben“.
Nur: „war hier“.

Weil das genug war.


Sie steckte das Schild neben das größere – nicht davor, nicht dahinter.
Borus legte sich daneben.
Wie immer.

Dann kam Theo.
Dann Leni.
Und selbst Karlchen war da – in seinem Tempo, aber sichtbar.

Sie saßen dort,
unter einem goldenen Himmel,
in einem Garten,
in dem nichts fehlte –
weil alles einmal da gewesen war.


Zwei Tage später brachte Jan ein Bild.
Er hatte es gefunden in einer alten Fototasche.

Paula am Bach.
Im Wasser stehend,
die Sonne auf dem Rücken,
ein Blick, der geradeaus ging – nicht zurück, nicht zur Seite.

„Ich dachte, es gehört hierher“, sagte er.
Marianne nickte.
Sie rahmte es ein.
Und stellte es auf das Fensterbrett in der Küche.
Zwischen den Blumentöpfen.

Jeden Morgen fiel das erste Licht darauf.
Und blieb kurz.


Der Garten veränderte sich.
Die Farben wurden tiefer.
Die Vögel zogen weiter.

Doch etwas blieb.

Nicht sichtbar.
Aber spürbar.

Marianne nannte es später einmal: „Der Raum, in dem Paula noch geht.“


An einem besonders klaren Nachmittag, als der Himmel blau war wie zerbrochenes Glas, setzte sich Borus auf die Bank.
Nicht zu Mariannes Füßen.
Auf die Bank.

Langsam, bedächtig.
Er stieg nicht einfach hinauf.
Er hob erst die Vorderpfoten.
Wartete.
Dann die Hinterläufe.

Er saß.
Aufrecht.
Wach.

Marianne starrte ihn an.
Dann lächelte sie.
„Na, altes Herz. Bist du jetzt die Wache?“

Borus blickte in den Garten.
Sein Blick ruhte auf dem Flieder.
Auf dem alten Hütteneingang.
Auf dem Platz, an dem der Stoffhase zuletzt gelegen hatte.

Dann schloss er die Augen.
Und blieb sitzen.


An diesem Abend schrieb Marianne nur einen Satz in ihr Notizbuch:

„Der Platz ist leer – aber nie verlassen.“


Im ersten Frostmorgen, als das Gras unter den Füßen knackte und der Atem weiß war,
ging Marianne noch einmal mit Borus durch den Garten.

Sie sagte nichts.
Er auch nicht.

Doch bevor sie ins Haus zurückkehrte, blieb sie stehen.
Blickte zurück.

Und sagte zum ersten Mal seit Monaten laut:

„Danke, Paula.
Für alles.“

Borus sah sie an.
Dann ging er weiter.

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