🐾 Teil 4: Abschied unter grauem Himmel
Ich saß noch eine Stunde neben ihm. Vielleicht länger.
Der Himmel hatte sich verfärbt. Bleigrau, mit schweren Wolken.
Der Wind roch nach Regen, nach Erde, nach Abschied.
Max atmete flacher.
Ich konnte spüren, dass er mit jedem Zug etwas mehr losließ.
Ich legte meine Hand auf seine Flanke.
„Wenn du gehst, alter Freund… geh leicht.“
Er öffnete noch einmal die Augen.
Kurz, klar.
Dann schloss er sie. Für immer.
Ich trug ihn ins Haus. So gut ich konnte.
Er war leichter geworden in den letzten Tagen. Aber nicht im Herzen.
Dort wog er schwer.
Ich wickelte ihn in die alte Wolldecke, die Leni ihm geschenkt hatte.
Mit Sternen drauf.
Dann setzte ich mich in den Sessel.
Und weinte. Zum ersten Mal seit Jahren.
Nicht laut. Nicht dramatisch.
Nur diese stillen Tränen, die aus einem Winkel kommen, den man nicht kannte, bis er zu brennen beginnt.
Am nächsten Morgen rief ich Simon an.
„Er ist gegangen.“
Er sagte nichts.
Kam zwei Stunden später mit Leni im Auto.
Sie stieg aus, ohne ein Wort, ging zu der Decke, die ich auf den Boden gelegt hatte.
Streichelte sie vorsichtig.
„Tschüss, Max“, sagte sie leise.
Dann holte Simon eine kleine Holzschachtel aus dem Kofferraum.
Handgefertigt. Dunkles Kirschholz.
„Ich dachte, vielleicht…“
Ich nickte.
Wir begruben Max unter der alten Eiche hinter dem Hof.
Die Erde war weich vom Regen.
Ich konnte nicht viel helfen, aber ich war dabei.
Simon hob die Schachtel in die Grube.
Leni legte drei Sachen dazu:
Ein Foto von ihr und Max.
Einen kleinen Gummiknochen.
Und ein Zettel mit Herz. Darauf stand:
„Du warst der mutigste Hund der Welt.“
Ich schloss die Augen, als Simon die erste Schaufel Erde fallen ließ.
Die Tage danach waren leer.
Ich stand morgens auf, ohne Pfotenklackern.
Keine feuchte Schnauze an der Hand.
Kein Schwanzwedeln, wenn ich in die Küche tappte.
Ich ging trotzdem raus.
Mit Krücke, allein.
Manchmal setzte ich mich auf die Bank am Bahndamm, wo wir früher alle saßen.
Die Vögel sangen.
Aber ohne Max klang alles anders.
Eine Woche später stand Leni wieder vor meiner Tür.
In der Hand hielt sie eine Zeichnung.
Ich erkannte sie sofort.
Max.
Mit Flügeln.
Und ich – daneben, mit meinem Krückstock, der aussah wie ein Zauberstab.
„Er passt auf dich auf, Opa“, sagte sie.
Ich nahm sie in den Arm.
Zum ersten Mal richtig.
An diesem Abend ging ich wieder in den Hof.
Der Himmel war klar. Keine Wolke.
Die Luft war mild.
Ich setzte mich auf den alten Hocker und sah zu Max’ Grab.
Eine kleine Windspielglocke hing jetzt an der Eiche.
Simon hatte sie montiert.
Wenn der Wind durch die Äste fuhr, klang sie wie ein leises „Danke“.
In der Nacht träumte ich von Straßen.
Nicht von Unfallstellen.
Sondern von langen, weiten Landstraßen.
Max lief vor mir her. Nicht mehr dreibeinig.
Er rannte. Schnell. Glücklich.
Ich folgte ihm.
Nicht mit Krücke. Nicht humpelnd.
Ich lief.
Und wir lachten.
Ein paar Wochen vergingen.
Ich versuchte, mich an das neue Leben zu gewöhnen.
Manchmal vergaß ich, dass Max nicht mehr da war.
Legte einen Napf raus. Rief ihn versehentlich.
Jedes Mal stach es kurz in der Brust.
Doch jedes Mal wurde es auch ein bisschen weniger.
Nicht, weil ich vergaß.
Sondern weil etwas in mir ruhiger wurde.
Im Juni bekam ich Post.
Ein kleiner Umschlag, handgeschrieben.
Absender: Tierheim Zeitz.
Ich öffnete ihn vorsichtig.
Drinnen lag ein Foto.
Ein Welpe. Schwarz-weiß.
Und ein Zettel:
„Wir haben da jemanden, der vielleicht einen Platz braucht. Keine drei Beine. Aber ein gebrochenes Herz. Wie Sie.“
Ich legte das Foto auf den Küchentisch.
Schaute es lange an.
Dann stellte ich es auf das Regal, neben Max’ altes Halsband.
Ich war noch nicht so weit.
Noch nicht.
Aber vielleicht bald.
Zwei Wochen später stand Simon in der Tür.
„Willst du mitkommen? Ein Ausflug. Nur du, ich, Leni.“
Ich zögerte.
„Wohin?“
„Lass dich überraschen.“
Wir fuhren eine halbe Stunde durch Felder und kleine Dörfer.
Dann bog er ab.
Zum Tierheim.
Ich sagte nichts.
Er auch nicht.
Wir stiegen aus.
Leni nahm meine Hand.
„Nur schauen, Opa.“
Drinnen war es warm.
Nach Futter, nach Decken, nach Leben.
Ein Mitarbeiter begrüßte uns.
Frau Krämer war nicht da.
„Wir haben ein paar neue Gesichter“, sagte er.
„Aber einer davon… der wartet. Schon länger.“
Wir gingen zum Außengehege.
Da war er.
Ein Mischling, vielleicht Schäferhund und etwas Kleineres.
Braune Augen, vorsichtiger Blick.
Er stand nicht auf.
Bewegte sich nicht.
Nur der Schwanz zuckte kurz.
Ich ging langsam zum Zaun.
Beugte mich runter.
„Na, Kleiner?“
Er kam. Schritt für Schritt.
Legte seine Schnauze gegen das Gitter.
Ich hielt meine Hand hin.
Und spürte es wieder.
Etwas, das man nicht planen kann.
Etwas, das einfach passiert.
Wir nannten ihn Leo.
Er war kein Max.
Und das war gut so.
Denn Leo kam nicht, um zu ersetzen.
Sondern um Platz zu füllen, der nicht leer bleiben sollte.
Und in seinen Augen lag die selbe Frage wie damals bei Max:
„Darf ich bleiben?“