🐾 Teil 8: Zwei auf vier Pfoten
Der Sommer streckte sich lang und warm über Zeitz.
Die Tage begannen mit Licht, die Nächte mit Grillenzirpen.
Ich saß oft mit Leo im Hof, ein kühles Bier in der Hand, sein Kopf auf meinem Fuß.
Wir hatten einen Rhythmus gefunden.
Ich stand früh auf, machte Kaffee, öffnete die Tür.
Leo wartete schon. Immer.
Manchmal streckte er sich erst. Manchmal kam er mit dem Ball im Maul.
Aber er war da.
Immer.
Eines Morgens, es war Anfang August, klingelte das Telefon.
Frau Krämer.
„Herr Mertens? Ich weiß, Sie haben gesagt, vielleicht mal zwei. Aber wir haben da wirklich einen Fall.“
Ich grinste.
„Na, erzählen Sie mal.“
„Ein kleiner Terriermischling. Fünf Monate alt. Taub. War in einer schlechten Haltung. Ist jetzt bei uns, aber sehr unsicher. Die anderen Hunde machen ihm Angst.“
Ich sagte nichts.
„Wir wollten ihn nicht in irgendeine Familie geben. Aber… bei Ihnen. Mit Leo. Vielleicht wird es was.“
Ich sah zu Leo, der unter dem Küchentisch döste.
„Ich komme morgen.“
Simon fuhr mich.
„Du meinst das ernst, oder?“
„Was meinst du?“
„Du bist jetzt… na ja, ein Mann mit Hund. Mit Herz. Mit Hoffnung.“
Ich lächelte.
„Ich bin einfach ein Mann, der wieder spürt, dass sein Leben größer sein kann als der eigene Schmerz.“
Im Tierheim erwartete uns eine kleine, zitternde Gestalt.
Weißes Fell, ein schwarzer Fleck über dem linken Auge, winzige Pfoten.
Er lag in einer Ecke, starrte gegen die Wand.
„Wir nennen ihn Moritz“, sagte Frau Krämer.
„Aber er kennt den Namen noch nicht. Er hört ja nichts.“
Ich setzte mich in die Hocke, so gut es ging.
Leo trat neben mich.
Der kleine Hund drehte sich langsam um.
Dann kam er. Schritt für Schritt.
Nicht zu mir.
Zu Leo.
Und legte sich neben ihn.
Einfach so.
Ich blinzelte gegen das Licht.
„Packen wir ihn ein“, sagte ich.
Moritz lebte sich langsam ein.
Er war vorsichtig, oft unsicher.
Ein lautes Geräusch ließ ihn zusammenzucken, auch wenn er es nicht hörte – es war, als spürte er die Schwingung in der Luft.
Leo wurde zum Lehrer.
Wenn ich winkte, drehte sich Leo zu Moritz um. Führte ihn, zeigte ihm, wie man den Garten erkundet, wo das Wasser steht, wie man sich vor die Tür setzt, wenn man rausmuss.
Ich hatte nie erlebt, wie ein Hund einem anderen die Welt erklärte – ohne Worte, ohne Bellen, nur mit Blicken, Bewegungen, Vertrauen.
Und Moritz lernte.
Schnell.
Leni war begeistert.
„Zwei Hunde! Du bist jetzt ein richtiges Hunderudel, Opa!“
Sie bastelte zwei Halsbänder.
Eins mit „Leo – der Mutige“.
Eins mit „Moritz – der Leise“.
Ich hing beide über die Garderobe.
Und jedes Mal, wenn ich sie sah, spürte ich, wie stilles Glück sich über mein Herz legte.
Im September wurde der Wind schärfer.
Die Felder wurden leer, die Abende kürzer.
Ich kaufte zwei Decken mehr, damit keiner friert.
Leo und Moritz schliefen jetzt oft zusammen.
Rücken an Rücken.
Wenn Leo träumte, zuckten seine Beine.
Wenn Moritz träumte, bewegte sich sein ganzer kleiner Körper.
Ich saß manchmal daneben. Schaute nur.
Und dachte: Ich hätte fast nie erfahren, wie sich das anfühlt.
Eines Nachts hörte ich ein Kratzen.
Ich stand auf. Leo war nicht da.
Ich ging in den Flur.
Die Tür war angelehnt.
Draußen, im Hof, stand Leo.
Starrte zum Himmel.
Moritz neben ihm.
Ich trat hinaus.
Es war windstill. Der Himmel klar.
Die Sterne funkelten still.
Leo setzte sich.
Moritz tat es ihm gleich.
Ich setzte mich auch.
Drei Lebewesen im Hof, in einer stillen Nacht, ohne Plan, ohne Lärm.
Nur Herz.
Ein paar Tage später kam ein Brief.
Kein offizieller.
Handschrift.
„Herr Mertens, ich habe von Ihrer Geschichte gehört. Von Max, von Leo. Ich leite eine kleine Selbsthilfegruppe für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Wir suchen jemanden, der mal erzählt, wie man trotzdem leben kann. Wären Sie bereit?“
Ich las den Brief zweimal.
Dann rief ich an.
Eine Woche später stand ich in einem kleinen Gemeindesaal in Weißenfels.
Vor mir saßen zehn Menschen.
Rollstühle, Gehhilfen, Prothesen.
Aber auch neugierige Augen.
Ich erzählte.
Nicht lang.
Nicht dramatisch.
Ich sprach von Max.
Von Leo.
Von Moritz.
Vom Stillwerden.
Vom Aufstehen.
Vom Gehen trotz Schmerz.
Am Ende stand eine Frau auf.
„Danke“, sagte sie.
„Ich dachte immer, ich bin allein mit meiner Wut. Jetzt weiß ich: Manchmal hilft ein Hund mehr als jedes Wort.“
Ich verbeugte mich leicht.
Leo stand neben mir.
Moritz lag zu meinen Füßen.
Und in diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr wie ein Mann mit nur einem Bein.
Sondern wie jemand, der anderen helfen konnte.
Später, im Auto, legte Simon seine Hand auf meine Schulter.
„Ich bin stolz auf dich, Papa.“
Ich sah in den Rückspiegel.
Leo schlief.
Moritz ebenfalls.
„Ich bin auch ein bisschen stolz auf mich“, sagte ich leise.
Zu Hause öffnete ich die Tür.
Leo sprang zuerst hinein.
Moritz folgte.
Ich trat über die Schwelle.
Und dachte:
Das ist mein Zuhause.
Nicht nur das Haus.
Sondern das Leben, das wieder atmet.
Und ich wusste: Die Pfoten auf meinem Asphalt hatten Spuren hinterlassen – nicht nur draußen, sondern auch tief in mir.