🐾 Teil 9: Spuren im ersten Frost
Der Oktober kam über Nacht.
Als ich morgens die Tür öffnete, knirschte der Reif unter meinen Füßen.
Leo hob die Nase in die Luft, Moritz tappte vorsichtig hinterher.
Sein erstes Mal Frost.
Er schüttelte die Pfoten, schaute mich vorwurfsvoll an.
Ich lachte.
„Willkommen im Osten, Kleiner.“
Ich begann, die Tage aufzuschreiben.
Nicht für ein Buch, nicht für andere.
Nur für mich.
Ein altes Schulheft, abgegriffener Umschlag.
Oben stand: „Pfoten auf dem Asphalt – Erinnerungen eines alten Mannes“
Ich schrieb nicht jeden Tag.
Nur dann, wenn etwas hängen blieb.
Der Moment, als Leo zum ersten Mal im Schlaf bellte.
Oder als Moritz seinen ersten Apfel klaute und unter dem Küchentisch vergrub.
Oder als ich Simon dabei erwischte, wie er Max’ Foto streichelte, obwohl er dachte, ich sähe es nicht.
Ich schrieb, weil es half.
Weil es heilte.
Ende Oktober kam ein Brief vom Bürgermeister.
Er hatte von meinem Vortrag in der Selbsthilfegruppe gehört.
„Herr Mertens, es würde uns freuen, wenn Sie beim Ehrenabend der Stadt ein paar Worte sagen. Ihr Weg mit den Hunden hat viele Menschen berührt.“
Ich saß lange mit dem Brief in der Hand.
Ich dachte an den Mann, der ich war.
Der stumme, zornige, vernarbte.
Und ich sah den Mann, der ich geworden war.
Noch immer gezeichnet.
Aber nicht mehr gebrochen.
Ich sagte zu.
Am Tag des Ehrenabends zitterten mir die Hände.
Nicht vor Angst.
Vor Bedeutung.
Leo und Moritz begleiteten mich.
Ich trug mein Hemd mit dem kleinen Riss am Ärmel. Der Riss stammte von Max. Ich ließ ihn bewusst so.
Der Saal war warm.
Voll.
Die Lichter blendeten ein wenig.
Ich trat ans Mikrofon.
Leo setzte sich.
Moritz legte sich hin.
Ich begann:
„Ich war mal Fahrer. Ich brachte Dinge von A nach B. Schnell, zuverlässig, unauffällig. Ich war nicht wichtig, nur funktional. Dann hatte ich einen Unfall. Ich verlor ein Bein. Aber mehr als das – ich verlor die Richtung.“
Stille.
Ich sprach weiter. Von Max. Von Leo. Von Moritz.
Von Leni. Von Simon.
Und davon, wie mich drei Hunde daran erinnert hatten, was es heißt, zu leben.
Als ich fertig war, stand niemand auf.
Aber es war auch kein Applaus nötig.
Nur ein Nicken hier. Ein Lächeln da.
Und das war mehr, als ich je erwartet hatte.
Am Ausgang wartete Leni.
Sie hielt ein selbst gemaltes Plakat hoch:
„Mein Opa ist der Mutigste von allen!“
Ich umarmte sie.
Ganz fest.
Der Winter kam früh.
Am ersten Advent lag Schnee.
Leo war begeistert.
Er wälzte sich darin, bellte den Flocken hinterher.
Moritz war skeptischer.
Er hüpfte wie ein Rehkitz, schüttelte sich bei jedem Kontakt.
Ich stapfte hinterher.
Langsam, aber mit beiden Hunden an meiner Seite.
Wir gingen den alten Bahndamm entlang.
Ich kannte jeden Schritt.
Und trotzdem war jeder Tag neu.
Zu Hause hängte ich Lichter auf.
Zum ersten Mal seit Jahren.
Leni half mir.
Simon brachte einen kleinen Tannenbaum vorbei.
„Nicht zu groß, Papa. Damit er in dein Leben passt.“
Ich schmückte ihn mit alten Kugeln.
Und einer neuen – mit Pfotenabdruck.
Ich wusste nicht, ob sie von Leo oder Moritz stammte.
War auch egal.
Denn sie gehörte zu mir.
An Heiligabend war das Haus voll.
Simon, Leni, zwei Nachbarn.
Kartoffelsalat, Würstchen, heißer Apfelsaft.
Leo lag im Wohnzimmer.
Moritz hatte seinen Platz unter dem Tisch gefunden.
Ich hielt eine kleine Rede.
Nicht geplant.
Nur aus dem Bauch.
„Ich danke euch. Für Licht im Dunkel. Für Leben, wo vorher nur Zeit war. Und für Pfoten, die mir gezeigt haben, wie man wieder geht.“
Leni klatschte als Erste.
Später saß ich mit Simon draußen.
Die Luft war still.
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Eine von denen, die ich nur zu besonderen Gelegenheiten rauchte.
Simon sagte nichts.
Bis er leise fragte:
„Denkst du noch oft an Max?“
Ich nickte.
„Jeden Tag. Aber nicht mit Schmerz. Mit Dankbarkeit.“
Er sah in die Sterne.
„Ich glaube, er sieht das hier. Und ich glaube, er ist zufrieden.“
Ich sagte nichts.
Aber ich hoffte es auch.
Gegen Mitternacht ging ich noch mal raus.
Leo folgte mir.
Moritz schlief tief.
Ich stand im Hof.
Schaute zur Eiche.
Der Schnee lag sanft auf dem Grab.
Ein Windhauch brachte die kleine Glocke zum Klingen.
Ich schloss die Augen.
Und ich hörte etwas.
Nicht mit den Ohren.
Mit dem Herzen.
Es war ein stilles „Ja“.