🐾 Teil 4: Stimmen im Regen
Martha riss die Augen auf. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie kaum noch unterscheiden konnte, ob der Atem hinter ihr wirklich existierte oder nur in ihrem Kopf war. Doch der Geruch von nassem Fell blieb, süßlich, schwer, so real, dass sie ihn nicht leugnen konnte.
Langsam erhob sie sich vom Boden, ihre Knie knarrten wie altes Holz. Sie drehte sich um, doch der Raum war leer. Nur die Schatten der Regenschleier, die durch die zerbrochenen Fenster fielen, bewegten sich über die Wände. Die Schatulle in ihrer Hand fühlte sich plötzlich heiß an, als hätte sie darin ein Herz eingeschlossen, das noch schlug.
„Wo bist du?“ flüsterte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Zittern.
In diesem Moment bellte der Hund draußen, ein einzelner, tiefer Laut, der durch das ganze Haus hallte. Martha taumelte zum Fenster, stützte sich mit den Händen am brüchigen Rahmen ab und spähte hinaus. Dort stand er wieder, im Regen, unbewegt, und seine Augen schimmerten wie Laternen im Dunkeln.
Sie wollte hinaus, zu ihm, doch ihr Blick fiel auf das Foto, das noch immer am Boden lag. Sie zwang sich, es aufzuheben, auch wenn ihre Finger bebten. Das Bild zeigte sie selbst, in ihrer Gegenwart, im eigenen Fenster. Jemand musste sie beobachtet haben, heimlich, geduldig, so nah und doch unsichtbar.
Ein Schauer jagte über ihren Rücken. Wer war in diesem Haus, wer wusste von ihr, von ihren stillen Tagen, die niemanden etwas angingen.
Sie presste das Foto gegen die Brust und ging vorsichtig in den Flur. Ihre Schritte hallten dumpf. Jede Diele, die knackte, klang wie eine Antwort auf Fragen, die sie nicht zu stellen wagte.
Im Flur hing ein Spiegel, blind vor Staub, das Glas rissig. Sie blieb davor stehen und wischte mit dem Ärmel eine freie Fläche. Ihr eigenes Gesicht starrte sie an, alt, müde, und doch fremd. Hinter ihrem Spiegelbild meinte sie für einen Augenblick eine zweite Gestalt zu erkennen. Ein Schatten, hochgewachsen, unbewegt. Sie blinzelte, und er war verschwunden.
Martha zwang sich weiterzugehen. In der Küche roch es nach Schimmel, die Fliesen waren geborsten, und doch lag auf dem Tisch eine Tasse, sauber, fast neu. Daneben stand ein Glas Wasser, halb gefüllt. Sie griff nach dem Glas, doch ihre Finger zögerten. Das Wasser war frisch, die Oberfläche noch nicht trüb. Jemand hatte es hier abgestellt, vor nicht allzu langer Zeit.
Sie stellte das Glas zurück. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Vielleicht war sie nicht allein. Vielleicht war das Haus nicht so verlassen, wie es aussah.
Draußen bellte der Hund erneut, diesmal länger, dringlicher. Es klang wie ein Ruf, eine Mahnung, nicht zu lange zu verweilen. Martha drängte es hinaus, doch ein Geräusch aus dem Obergeschoss hielt sie zurück. Ein dumpfes Scharren, als zöge jemand etwas Schweres über den Boden.
Sie stand reglos, die Hände verkrampft. Ihr Atem ging stoßweise. Schließlich fasste sie Mut und stieg erneut die Treppe hinauf. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Bruch mit dem, was sie noch für sicher gehalten hatte.
Oben im kleinen Zimmer war der Koffer wieder geschlossen. Eben noch hatte sie ihn offen zurückgelassen, die Taschenuhr in der Hand. Jetzt stand er zu, ordentlich, als hätte niemand ihn berührt. Auf dem Bettgestell lag ein zweites Foto, das zuvor nicht dort gelegen hatte. Es zeigte Jakob, älter, nicht mehr der lachende Junge, sondern ein Mann, gezeichnet von Kummer. Auf der Rückseite stand eine Jahreszahl. 1987.
Martha sog scharf die Luft ein. Niemand hatte je gewusst, dass Jakob so lange gelebt hatte, zumindest nicht hier. Doch dieses Foto bewies, dass er nicht verschwunden, sondern geblieben war, verborgen in diesen Mauern, während draußen das Leben weiterging.
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie hatte ihr Leben gelebt, ohne Antworten, während er vielleicht nur ein paar Straßen weiter gewartet hatte. All die Jahre, in denen sie genäht, gekocht, geschwiegen hatte, hatte er womöglich genau dasselbe getan, nur ein paar Türen weiter.
Ein Windstoß ließ die Tür zuschlagen. Sie fuhr herum. In der Dunkelheit des Flurs stand plötzlich der Hund, seine Silhouette groß, der Körper nass vom Regen, obwohl er sich im Inneren des Hauses befand. Seine Augen fixierten sie, und Martha spürte, dass er sie führen wollte, tiefer, weiter, bis an den Ursprung dieses Geheimnisses.
Sie folgte ihm, Schritt für Schritt, obwohl ihr Herz sich dagegen wehrte. Der Hund lief langsam den Flur entlang, dann die schmale Treppe hinab, die in den Keller führte. Martha war seit Jahren nicht mehr in einem Keller gewesen. Ihre Knie wollten nicht mehr, die Dunkelheit schnürte ihr die Kehle zu, doch sie ging.
Der Keller war feucht, modrig, der Boden uneben. Der Hund blieb stehen vor einer Wand, deren Putz abblätterte. Er sah sie an, wartete. Martha legte die Schatulle ab und tastete die Wand ab. Ihre Finger spürten eine Fuge, lose Steine. Sie drückte, und einer der Steine bewegte sich. Mit zitternder Kraft zog sie ihn heraus. Dahinter öffnete sich eine kleine Nische.
Darin lag ein Buch, in Leder gebunden, feucht, aber lesbar. Sie zog es hervor, wischte Schimmelreste ab und schlug die erste Seite auf. Die Schrift war Jakobs, unverkennbar. Ein Tagebuch.
Die ersten Worte waren eine Beichte. „Ich bin nicht gegangen. Ich habe mich hier versteckt. Vor den Fragen, vor den Menschen, vor ihr.“
Martha las weiter, das Herz raste. Seite um Seite offenbarte ein Leben im Verborgenen, voller Reue, voller Angst, doch auch voller Liebe zu ihr, die er nie losgeworden war. Er hatte sie beobachtet, heimlich, über die Jahre, war nicht fähig gewesen, sich zu zeigen.
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Jahrzehntelang hatte sie geglaubt, er habe sie verlassen. Und die ganze Zeit war er hier gewesen, ein Gefangener seines Schweigens.
Sie schloss das Buch, drückte es fest an sich. Der Hund hatte sich gesetzt, als hätte er seine Aufgabe erfüllt. Doch in seinen Augen lag noch etwas, eine Warnung, eine Mahnung, dass dies nur der Anfang war.
Über ihnen donnerte es. Ein Geräusch, so schwer, dass der ganze Keller erzitterte. Martha fuhr herum, das Buch fest umklammert. Es klang, als sei jemand im Haus, schwerfällig, langsam, Schritt für Schritt.
Sie hob den Kopf.
Und dann hörte sie ihren Namen. Ganz leise, heiser, und doch so vertraut, dass ihr Herz aussetzte.
„Martha…“