Regenhund | An verregneten Tagen erschien ein fremder Hund und führte sie zu einem jahrzehntelang begrabenen Geheimnis

🐾 Teil 5: Die Stimme aus der Tiefe

Das Echo ihres Namens hing schwer in der Dunkelheit des Kellers. Martha erstarrte. Sie glaubte, ihr Herz habe aufgehört zu schlagen, so stark pochte es in den Ohren. Es war eine Stimme, die nicht nur aus dem Haus kam, sondern aus einer Zeit, die sie längst verloren geglaubt hatte.

„Martha…“

Wieder dieser Laut, kaum mehr als ein Flüstern, und doch durchdringend wie ein Messer. Sie drückte das Tagebuch fester an ihre Brust, als könne es sie schützen. Der Hund hob den Kopf, seine Ohren zuckten, und er starrte die Treppe hinauf, wo das Geräusch hergekommen war.

Martha fühlte sich, als stünde sie auf der Schwelle zweier Welten, der einen, die sie kannte, und der anderen, die ihr alles nehmen oder alles zurückgeben konnte. Ihre Beine waren schwer, doch sie zwang sich zur Treppe. Der Hund erhob sich und ging voran.

Die Holzstufen ächzten, während sie langsam nach oben stieg. Mit jedem Schritt wurde die Stimme klarer, deutlicher, so nah, als stünde der Sprecher schon gleich hinter der nächsten Tür.

Oben im Flur war es dunkel. Nur durch das angelehnte Fenster fiel ein blasser Streifen Mondlicht. Martha wagte kaum zu atmen. Sie lauschte, doch nun herrschte wieder Stille.

„Jakob?“ flüsterte sie, zögerlich, die Kehle trocken.

Keine Antwort. Nur der Wind, der durch die Ritzen strich.

Der Hund ging zum Wohnzimmer und blieb dort stehen. Martha folgte ihm, das Tagebuch noch immer in den Händen. Der Raum war unverändert, die Schachtel lag auf dem Boden, die Fotos verstreut. Doch etwas war anders. Auf dem Tisch stand nun eine Kerze, deren Flamme flackerte, obwohl sie schwor, eben noch sei sie nicht da gewesen.

Sie trat näher. Wachstropfen liefen an dem alten Leuchter hinab, und die Flamme bewegte sich, als wäre jemand eben erst fortgegangen. Martha starrte in das Licht, als könnte es ihr eine Antwort geben.

„Warum jetzt?“ fragte sie leise. „Warum nach all den Jahren?“

Der Hund setzte sich neben den Tisch. Seine Augen spiegelten die Kerze, als brenne das Licht in ihm selbst. Martha öffnete das Tagebuch wieder, schlug eine beliebige Seite auf.

„Heute habe ich sie gesehen. Sie trägt ihr Haar kürzer, aber ihr Gang ist derselbe. Ich stand im Schatten, damit sie mich nicht bemerkt. Doch jedes Mal, wenn sie lacht, weiß ich, warum ich noch hier bin.“

Die Schrift war zittrig, voller Pausen, als habe die Hand gezögert. Martha schloss das Buch, ihre Augen brannten. Jakob war nie fort gewesen. Er hatte sie heimlich begleitet, vielleicht über Jahre, wie ein Schatten an ihrer Seite, ohne dass sie es ahnte.

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Die Haustür, die eben noch geschlossen war, knarrte. Martha drehte sich um. Kalte Nachtluft strömte herein, und im Türrahmen stand eine Gestalt.

Sie konnte keine Details erkennen, nur die Umrisse. Groß, schmal, die Schultern leicht nach vorne gebeugt. Für einen Moment war es, als stünde Jakob dort, gealtert, gezeichnet vom Leben, das er im Verborgenen geführt hatte.

„Martha.“

Die Stimme war heiser, brüchig, doch voller Vertrautheit. Ihre Knie gaben beinahe nach. Sie wagte nicht, sich zu bewegen.

„Bist du es?“ fragte sie. Ihre Stimme klang klein, fremd in ihren eigenen Ohren.

Die Gestalt trat einen Schritt näher, doch das Licht reichte nicht aus, um das Gesicht zu erkennen. Der Hund knurrte leise, nicht aggressiv, eher warnend, als wollte er sie mahnen, vorsichtig zu bleiben.

„Ich habe gewartet“, sagte die Stimme. „So viele Jahre.“

Martha schluckte. Ihre Gedanken wirbelten. War es möglich, dass Jakob noch lebte, all die Zeit verborgen, ein Gefangener seiner eigenen Schuld? Oder war dies nur ein Echo, ein Geist, geboren aus den Schatten und ihrer eigenen Sehnsucht?

„Warum bist du nicht zu mir gekommen?“ flüsterte sie.

Die Gestalt schwieg. Dann hörte sie ein leises, abgehacktes Lachen, so bitter, dass es ihr durch die Haut schnitt. „Weil ich nicht durfte. Weil ich nicht konnte.“

Martha spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Sie trat einen Schritt vor, doch der Hund stellte sich ihr in den Weg. Er blickte sie an, die Augen eindringlich, als wollte er sie vor etwas beschützen.

„Lass mich vorbei“, flüsterte sie, doch der Hund wich nicht.

Die Gestalt im Türrahmen bewegte sich langsamer, trat schließlich ins Zimmer. Ein Lichtstrahl fiel durch das Fenster und erhellte für einen Augenblick das Gesicht. Es war tatsächlich Jakobs Gesicht, älter, eingefallen, aber unverkennbar.

Marthas Herz raste. Sie wollte zu ihm eilen, ihn berühren, sich vergewissern, dass er wirklich war. Doch in dem Moment flackerte die Kerze heftig, die Flamme erlosch, und Dunkelheit verschluckte den Raum.

Sie hörte Schritte, schwer und hastig, die hinaus in die Nacht führten. Martha stürzte zur Tür, doch draußen im Regen war niemand zu sehen. Nur der Hund stand da, nass, unbewegt, seine Augen fest auf sie gerichtet.

Martha kehrte ins Haus zurück, das Herz voll Verwirrung. Auf dem Tisch lag das Tagebuch, offen auf einer neuen Seite, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Die Schrift war frisch, als sei sie eben erst geschrieben worden.

„Ich bin hier. Aber wenn du mich wirklich sehen willst, musst du den letzten Raum öffnen.“

Marthas Hände zitterten. Der letzte Raum. Sie wusste, welcher gemeint war. Der Dachboden war es nicht, auch nicht der Keller. Es war die kleine Kammer hinter der Küche, die man nur über eine niedrige Tür erreichte und die sie in ihrer Jugend einmal gesehen hatte. Seit Jahrzehnten war sie verschlossen gewesen.

Der Hund erhob sich und ging langsam in Richtung Küche. Martha folgte ihm, obwohl ihr jeder Schritt schwerfiel. Vor der niedrigen Tür blieb er stehen und legte die Pfote dagegen.

Martha holte tief Luft. Ihr ganzer Körper bebte, doch sie wusste, dass sie jetzt nicht mehr zurückkonnte. Sie griff nach der rostigen Klinke.

Im selben Moment hörte sie hinter sich wieder die Stimme.

„Martha… öffne es nicht.“

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