Regenhund | An verregneten Tagen erschien ein fremder Hund und führte sie zu einem jahrzehntelang begrabenen Geheimnis

🐾 Teil 6: Die verbotene Tür

Martha erstarrte. Ihr Griff an der rostigen Klinke verkrampfte, als hätte jemand kaltes Eisen in ihre Hand gelegt. Die Stimme, die sie eben gehört hatte, war so klar gewesen, dass kein Zweifel blieb. Sie war in diesem Haus nicht allein.

„Martha… öffne es nicht.“

Die Worte hallten nach, nicht laut, eher wie ein Flehen, das sich in die Wände fraß. Sie spürte, wie ihr Atem flacher wurde. Ihr Herz schlug gegen die Rippen wie ein Tier, das entkommen will.

Langsam drehte sie den Kopf, doch im schwachen Schein des Regens, der durch die zerbrochenen Fenster fiel, war niemand zu sehen. Der Hund stand noch immer reglos vor der kleinen Tür. Seine Augen wirkten ernster denn je. Er schien sie zu drängen, weiterzugehen, auch wenn die Stimme das Gegenteil verlangte.

Martha legte die Stirn an das Holz. Es war kühl, roch nach Moder und vergangener Zeit. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer hatte gesprochen? War es Jakob, wie sie es in ihrem Herzen glauben wollte? Oder war es nur ein Schatten, eine Erinnerung, die das Haus lebendig machte?

Sie flüsterte, kaum hörbar. „Wenn du wirklich hier bist, dann zeig dich.“

Keine Antwort. Nur das gleichmäßige Trommeln des Regens auf das Dach.

Der Hund schnaubte leise, schob mit der Pfote noch einmal gegen die Tür. Martha schloss die Augen. Sie wusste, dass sie nicht länger zögern konnte. Mit zittrigen Fingern drückte sie die Klinke hinunter. Das Schloss gab ein leises Klicken von sich, dann öffnete sich die Tür langsam, knarrend, als sei sie seit Jahrzehnten nicht mehr bewegt worden.

Ein Geruch schlug ihr entgegen, feucht, muffig, fast süßlich. Sie hielt den Atem an, trat über die Schwelle. Der Hund folgte ihr.

Der Raum war klein, kaum größer als eine Abstellkammer. An den Wänden hingen Regale, vollgestellt mit alten Gläsern, Töpfen, verstaubten Gegenständen. Doch in der Mitte stand etwas, das den Atem stocken ließ.

Ein Stuhl, schlicht, aus Holz, und auf ihm ein Bündel Stoff. Sie trat näher, kniete sich hin. Es war ein Mantel, alt, aber sorgfältig gefaltet. Auf dem Stoff lag eine Brille, rund, das Glas leicht zerkratzt. Martha erkannte sie sofort. Sie hatte sie in ihrer Jugend einmal in Jakobs Händen gesehen.

Ihre Finger zitterten, als sie die Brille aufhob. Ein Bild durchzuckte sie, so lebendig, dass sie den Raum um sich vergaß: Jakob, der am Rand des Dorffestes stand, die Brille schief auf der Nase, das Lächeln verlegen. Er war nie ein Mann gewesen, der im Mittelpunkt stand. Und doch hatte sie ihn damals gesehen, so klar wie jetzt in diesem Moment.

Unter dem Mantel lag ein Buch, kleiner als das Tagebuch, das sie zuvor gefunden hatte. Sie schlug es auf. Die Seiten waren brüchig, aber beschriftet mit derselben Handschrift. Kurze Notizen, Listen, manchmal nur ein einziges Wort. Auf einer Seite stand in großen Buchstaben ihr Name.

Martha.

Darunter ein Satz: „Ich konnte nicht zurück, aber ich war nie fort.“

Sie schloss das Buch mit bebender Brust. Tränen liefen ihr über die Wangen. All die Jahre hatte sie geglaubt, Jakob sei verschwunden, habe sie zurückgelassen. Doch die Wahrheit war komplizierter, dunkler, voller unerklärlicher Schatten.

„Warum?“ fragte sie in den Raum hinein. Ihre Stimme brach. „Warum hast du dich versteckt?“

Plötzlich hörte sie Schritte. Nicht ihre eigenen, nicht die des Hundes. Schritte, schwer, langsam, die aus dem Flur kamen. Sie sprang auf, das Herz raste. Durch die Tür sah sie den Schatten einer Gestalt, groß, gebeugt, langsam näherkommend.

„Du hättest es nicht öffnen sollen.“ Die Stimme war dieselbe wie zuvor, heiser, brüchig.

Martha wich zurück. Der Hund stellte sich vor sie, die Muskeln angespannt, der Blick fest auf den Flur gerichtet. Ein tiefes Knurren vibrierte in seiner Kehle.

„Zeig dich“, forderte Martha, diesmal lauter, fast trotzig. „Wenn du Jakob bist, dann komm heraus.“

Die Schritte verstummten. Ein Augenblick der Stille, so dicht, dass sie meinte, ihr Herzschlag könnte das Schweigen zerreißen. Dann trat die Gestalt in den Türrahmen.

Im flackernden Licht des Mondes sah sie für einen Moment ein Gesicht. Blass, eingefallen, mit Augen, die von Jahren gezeichnet waren. Augen, die sie kannte, obwohl Jahrzehnte vergangen waren.

„Jakob.“

Sein Name glitt ihr über die Lippen, wie ein Gebet, das sie nicht mehr vergessen konnte. Doch die Gestalt antwortete nicht. Sie stand nur da, bewegungslos, wie eine Statue aus Fleisch und Schatten.

Der Hund bellte, einmal, scharf, dann sprang er einen Schritt nach vorn. Die Gestalt wich zurück, löste sich fast im Dunkel auf, als sei sie nie wirklich dort gewesen.

Martha taumelte nach draußen, das Buch noch immer in den Händen. Ihre Beine trugen sie kaum. Sie lehnte sich gegen die Wand, atmete schwer. Der Hund blieb vor ihr stehen, seine Augen fixierten sie, ernst, unerbittlich.

Sie sah auf die Seiten des kleinen Buches, schlug es wahllos auf. Ein Satz sprang ihr entgegen. „Wenn du diese Tür öffnest, wirst du mich finden. Doch vielleicht nicht so, wie du es erhoffst.“

Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Diesmal kam es von oben, vom Dachboden. Ein langes, schleifendes Scharren, als würde etwas Schweres über die Balken gezogen.

Martha blickte hinauf. Ihre Knie zitterten. Sie wusste, dass sie dort die nächste Antwort finden musste. Und zugleich ahnte sie, dass diese Antwort ihr Leben für immer verändern würde.

Der Hund setzte sich neben die Treppe, den Blick unbeweglich auf sie gerichtet.

Martha legte das kleine Buch zur Schatulle, die sie mitgenommen hatte, und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann setzte sie den Fuß auf die erste Stufe, so fest, als wolle sie dem Boden beweisen, dass sie noch Kraft hatte.

Oben, im Dunkel, hörte sie etwas, das kein Schatten, kein Wind hervorbringen konnte.

Eine Stimme, diesmal deutlicher, stärker, fast so, als stünde er direkt vor ihr.

„Komm zu mir, Martha.“

Scroll to Top