🐾 Teil 7: Das Rufen aus dem Dunkel
Martha zögerte auf der Treppe. Ihre Hand klammerte sich so fest ans Geländer, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Ruf, der von oben kam, hallte noch in ihrem Kopf, als habe jemand ihn direkt in ihre Gedanken gelegt.
„Komm zu mir, Martha.“
Die Worte waren voller Wärme und doch schwer wie Blei. Sie konnte nicht erkennen, ob darin Trost oder Bedrohung lag. Der Hund unten im Flur gab ein tiefes Knurren von sich, so als wollte er sie warnen. Aber er blieb dort, setzte sich und sah sie unverwandt an, als läge die Entscheidung allein bei ihr.
Sie spürte, wie ihre Füße von selbst weitergingen, Stufe um Stufe, als gehorchten sie einem Befehl, den ihr Körper verstand, ihr Geist aber nicht. Das Holz ächzte unter ihrem Gewicht, der Geruch von Staub und nassem Gebälk drang ihr in die Nase. Jeder Schritt brachte sie näher an etwas, das sie zugleich ersehnte und fürchtete.
Oben angekommen öffnete sich der Raum wie ein schwarzer Schlund. Das Licht des Mondes fiel nur schwach durch die Lücke im Dach, zeichnete silberne Linien über die Balken. Martha hielt inne, lauschte. Nichts außer ihrem eigenen Atem.
„Jakob?“ flüsterte sie.
Die Dunkelheit antwortete nicht. Doch in der hintersten Ecke meinte sie, eine Bewegung zu erkennen. Ein Schatten, der sich vom übrigen Schwarz unterschied.
Sie ging ein paar Schritte hinein. Ihre Hände tasteten nach den Balken, ihre Füße suchten Halt. Der Boden war uneben, an manchen Stellen morsch. Sie spürte, dass jeder falsche Schritt sie tief hinabreißen könnte.
Der Schatten wurde deutlicher. Eine Gestalt, zusammengesunken, wie jemand, der lange gesessen hatte. Martha wagte kaum zu atmen. Ihr Herz schlug so stark, dass sie meinte, er müsse es hören.
„Bist du es?“ fragte sie mit zittriger Stimme.
Die Gestalt hob den Kopf. Ein fahler Lichtstrahl fiel über das Gesicht. Eingefallen, bleich, mit Augen, die sie durchbohrten. Augen, die ihr zugleich fremd und vertraut waren.
„Ich habe gewartet.“ Die Stimme war brüchig, fast ein Hauch.
Martha stieg näher. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Jakob…“
Er nickte schwach. Sein Blick war voller Schmerz, aber auch voller Liebe. Sie sah in ihm den Jungen von damals, der ihr auf dem Fest ein Stück Brot gereicht hatte, der sie zum Tanzen gebeten hatte, obwohl er immer so schüchtern gewesen war. Und sie sah den alten Mann, den das Schweigen und die Schuld zerfressen hatten.
„Warum bist du hier geblieben?“ fragte sie.
Jakob senkte den Kopf. „Weil ich es nicht anders konnte. Weil die Schuld mich festgehalten hat.“
„Welche Schuld?“ Ihre Stimme brach. „Was ist damals geschehen?“
Er sah sie lange an, dann deutete er auf eine Truhe neben sich. „Darin liegt die Wahrheit. Aber wenn du sie öffnest, gibt es kein Zurück.“
Martha wischte sich die Tränen ab, kniete sich vor die Truhe. Sie war schwer, das Holz dunkel, die Ränder von Feuchtigkeit aufgequollen. Sie griff nach dem Deckel. Der Hund unten im Flur heulte plötzlich, ein langer, klagender Ton, der ihr durch Mark und Bein ging.
Ihre Hand verharrte. Sie wusste, dass der Hund sie warnte, dass er etwas sah, was sie nicht sah. Doch die Neugier, die Sehnsucht nach Klarheit, war stärker. Sie hob den Deckel langsam an.
Drinnen lag ein Stapel alter Zeitungen, vergilbt, die Ränder brüchig. Sie nahm das oberste Blatt heraus, strich es glatt. Die Schlagzeile sprang ihr sofort ins Auge.
„Ungeklärter Tod im Harz – junger Mann seit Wochen vermisst.“
Darunter ein Foto. Sie kannte das Gesicht. Es war der Bruder von Jakob, Ernst Riedel. Martha erinnerte sich, dass er damals plötzlich verschwunden war, und man nie erfuhr, was mit ihm geschehen war.
Sie sah Jakob an. „Dein Bruder?“
Er nickte, langsam, schwer. „Er kam an jenem Abend nach Hause. Er wollte mich fortjagen. Er sagte, ich sei eine Schande. Wir stritten. Und dann…“
Er verstummte. Seine Hände zitterten.
Martha hielt den Atem an. „Dann?“
„Es war ein Unfall“, flüsterte er. „Aber niemand hätte mir geglaubt. Also schwieg ich. Ich schwieg mein Leben lang.“
Die Worte fielen in die Stille wie Steine ins Wasser. Martha konnte kaum glauben, was sie hörte. Jahrzehntelang hatte sie geglaubt, Jakob habe sie verlassen. Doch in Wahrheit war er hier geblieben, gefangen in einer Schuld, die ihn an dieses Haus gebunden hatte.
Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie wollte ihn berühren, wollte ihm verzeihen, auch wenn sie nicht wusste, ob sie es konnte. Doch in diesem Moment veränderte sich die Luft im Raum. Sie wurde dichter, schwerer, fast erstickend.
Jakob hob den Kopf, seine Augen weit, voller Angst. „Er ist noch hier.“
Martha fror. „Wer?“
Jakobs Stimme war kaum hörbar. „Ernst.“
Ein Krachen ließ sie zusammenfahren. Aus der Dunkelheit der Ecke löste sich ein zweiter Schatten, größer, massiger, als wüchse er aus den Balken selbst. Die Luft wurde eisig, und ein Laut, halb Schrei, halb Wind, erfüllte den Raum.
Der Hund unten bellte, wild, verzweifelt.
Martha wich zurück, das Herz raste. Jakob erhob sich taumelnd, streckte die Hand nach ihr aus. „Geh! Es ist zu spät für mich!“
Doch bevor sie reagieren konnte, stürzte der Schatten mit einer Wucht hervor, die den Boden erbeben ließ.
Und Martha spürte, dass dies kein Geheimnis mehr war, das sich in alten Papieren versteckte. Es war ein Geheimnis aus Fleisch und Dunkelheit, das nicht länger ruhen wollte.