🐾 Teil 8: Der Schatten der Schuld
Der Dachboden bebte unter dem Aufprall des Schattens. Staub wirbelte auf, die alten Balken ächzten, als wollten sie nachgeben. Martha stolperte zurück, die Hände schützten instinktiv das Gesicht. Das Dunkel hatte Gestalt angenommen, roh, mächtig, unfassbar. Es war keine einfache Erinnerung, kein bloßer Wind. Etwas Lebendiges war in diesen Mauern geblieben.
Jakob stand zitternd neben ihr, seine Augen weit, seine Lippen murmelten Worte, die sie nicht verstand. Er sah den Schatten an, als stünde er einem Vertrauten gegenüber, einem, der ihn nie hatte loslassen wollen.
„Ernst“, flüsterte er, kaum hörbar.
Der Schatten bewegte sich, schwer, aber sicher. Aus dem formlosen Dunkel lösten sich Konturen, ein Arm, ein Kopf, eine Silhouette, die menschlich wirkte und doch mehr war. Die Luft wurde kälter, so dass Marthas Atem wie Nebel sichtbar war.
Der Hund sprang die Treppe herauf, das Fell triefend, obwohl kein Tropfen ihn berührt hatte. Er stellte sich vor Martha, das Knurren tief und durchdringend, bereit, alles zu verteidigen. Seine Augen leuchteten im Halbdunkel, und für einen Moment schien es, als hielte der Schatten inne.
Martha spürte, dass dies kein gewöhnlicher Kampf war. Es war nicht Fleisch gegen Fleisch, sondern Schuld gegen Wahrheit, Vergangenheit gegen Gegenwart. Der Hund bellte, scharf, voller Kraft, und der Schatten zuckte zurück, als hätte ihn das Licht getroffen.
Jakob sank auf die Knie. Seine Stimme zerriss das Schweigen. „Es war ein Unfall! Ich habe dich nicht töten wollen!“
Die Worte hallten durch den Raum, prallten von den Balken zurück wie Donner. Der Schatten erstarrte. Für einen kurzen Augenblick meinte Martha, in ihm das Gesicht eines Mannes zu erkennen, grob, streng, mit Zügen, die an Jakob erinnerten.
Ein Zittern ging durch den Boden. Martha fühlte, wie ihre Knie nachgaben, doch sie hielt sich am Balken fest. Der Hund stand noch immer reglos, die Muskeln angespannt, als wüsste er, dass der nächste Augenblick entscheidend sein würde.
„Jakob“, rief Martha, ihre Stimme durchdringend trotz des bebenden Raums. „Sprich zu ihm! Sprich zu deinem Bruder!“
Jakob hob den Kopf, Tränen liefen über sein Gesicht. „Ernst, ich habe mein Leben lang geschwiegen, aber ich kann nicht mehr. Ich trage es nicht länger. Vergib mir, wenn du kannst.“
Ein Schrei, rau und unmenschlich, erfüllte den Dachboden. Der Schatten bäumte sich auf, groß wie ein Sturm, der alles verschlingen wollte. Doch in diesem Laut lag weniger Zorn als Schmerz. Martha erkannte es, spürte es in jeder Faser ihres Körpers.
Der Hund bellte erneut, diesmal langgezogen, fast klagend, als wollte er das Echo der Vergebung in die Dunkelheit tragen.
Der Schatten verharrte. Dann sackte er langsam zusammen, verlor seine Form, löste sich in Nebel auf. Nur ein kalter Wind blieb, der durch die Ritzen des Dachbodens strich.
Martha stand da, das Herz raste, der Atem ging stoßweise. Sie hatte das Gefühl, etwas Schweres sei von den Mauern gefallen, etwas, das Jahrzehnte darin gefangen gewesen war.
Jakob lag noch immer auf den Knien, sein Blick leer, seine Hände ausgestreckt. „Es ist vorbei“, murmelte er.
Doch Martha wusste, dass es nicht vorbei war. In ihren Händen hielt sie noch immer die Bücher, die Briefe, die Beweise für ein Leben im Verborgenen. Das Haus hatte seine Geheimnisse gezeigt, aber nicht alle.
Der Hund kam zu ihr, legte den Kopf gegen ihr Bein, als wolle er ihr Trost spenden. Sein Fell war nass, kalt, aber das Gewicht beruhigte sie. Sie strich ihm über den Kopf, spürte die Stärke in seinem Körper.
Sie half Jakob aufzustehen. Er wirkte zerbrechlich, kaum mehr als ein Schatten seiner selbst. Doch seine Augen waren klarer als zuvor, frei von der Last, die ihn so lange niedergehalten hatte.
„Du musst es erzählen“, sagte sie leise. „Die Wahrheit darf nicht hier sterben.“
Jakob nickte, auch wenn seine Lippen zitterten. „Aber wer wird mir glauben? Wer hört noch auf einen alten Mann?“
„Ich“, sagte Martha. „Und das reicht für jetzt.“
Sie stiegen die Treppe hinunter, der Hund voran. Im Flur war es still, als hätten die Mauern endlich aufgehört zu atmen. Doch in der Küche blieb Martha stehen. Die kleine Tür, die sie geöffnet hatte, stand wieder angelehnt. Und diesmal kam kein Geruch von Moder, sondern etwas anderes, etwas Süßliches, das sie nicht deuten konnte.
Sie wollte hingehen, doch Jakob hielt sie zurück. „Nicht heute. Es reicht.“
Martha nickte widerstrebend. Sie wusste, dass er recht hatte, dass ihr Herz nicht mehr viel ertragen konnte. Aber sie wusste auch, dass der letzte Raum nicht schweigen würde. Er wartete.
Draußen hatte der Regen aufgehört. Der Hund führte sie bis vor das Haus. Im schwachen Licht der Straßenlaterne sah Martha die Fassade, grau und brüchig, und doch wirkte sie leichter, als hätte das Haus selbst aufatmen können.
Jakob setzte sich auf die alte Bank vor dem Gartentor. Er wirkte müde, aber sein Blick war zum ersten Mal nicht mehr leer. „Ich habe dich beobachtet“, gestand er. „All die Jahre. Ich konnte nicht anders. Aber ich habe nie den Mut gefunden, zu dir zurückzukommen.“
Martha setzte sich neben ihn. Sie sagte nichts, nur ihre Hand legte sich auf seine. Schweigend saßen sie da, während der Hund sich zu ihren Füßen legte.
Die Nacht war still. Doch in der Ferne, tief im Haus, glaubte Martha ein leises Klopfen zu hören. Regelmäßig, beharrlich, wie das Ticken einer Uhr, die niemals stehengeblieben war.
Sie hob den Kopf, lauschte. Jakob sah sie an, seine Augen voller Furcht.
„Das ist er nicht“, flüsterte er. „Das ist etwas anderes.“