Regenhund | An verregneten Tagen erschien ein fremder Hund und führte sie zu einem jahrzehntelang begrabenen Geheimnis

🐾 Teil 9: Das Klopfen im Gemäuer

Das Klopfen ließ Martha nicht los. Es war kein zufälliges Geräusch, kein Tropfen Regen, der von den Dachziegeln fiel. Es war regelmäßig, wie ein Herzschlag, der im Mauerwerk lebte.

Sie saß neben Jakob auf der Bank, die Nacht still um sie herum, und doch war dieses Ticken in ihren Ohren lauter als alles andere. Der Hund hob den Kopf, die Ohren gespitzt, sein Blick fixierte das Haus, als wolle er etwas durch die Wände hindurch sehen.

„Hörst du das?“ fragte Martha leise.

Jakob nickte, seine Hände krampften sich ineinander. „Es war nie fort. Auch wenn ich es verdrängte. Dieses Haus spricht nicht nur von mir und Ernst. Es trägt mehr Stimmen in sich, als ich ertragen kann.“

Martha sah ihn an, suchte in seinem Gesicht nach einer Antwort, die sie beruhigen konnte. Doch da war nur Müdigkeit, Schuld und etwas, das sie nicht deuten konnte – vielleicht Angst.

Sie stand auf, blickte zum Haus zurück. Die Fassade wirkte dunkler, als hätte sich der Schatten des Dachbodens über das ganze Gebäude gelegt. „Wir können nicht einfach gehen. Es wird nicht schweigen, wenn wir es ignorieren.“

Der Hund bellte kurz, tief, fast zustimmend. Jakob aber schüttelte den Kopf. „Manche Türen sollen verschlossen bleiben.“

„Und wenn hinter diesen Türen noch mehr von dir steckt? Von dem, was du verdrängt hast?“

Jakob schwieg. Sein Blick glitt in die Ferne, zu den dunklen Umrissen der Berge. Für einen Moment sah er aus wie der Junge, den sie einst gekannt hatte, gefangen zwischen Sehnsucht und Schuld.

Martha legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich habe mein Leben in Stille verbracht, Jakob. Aber ich werde es nicht in Unwissenheit beenden. Wenn ich dieses Klopfen höre, muss ich wissen, was es ist.“

Sie wandte sich ab, ging zum Haus zurück. Der Hund folgte ihr sofort, sein Fell glänzte im schwachen Licht. Jakob blieb einen Augenblick sitzen, dann erhob er sich langsam, als kostete ihn jeder Schritt Kraft.

Im Flur des Hauses war das Geräusch deutlicher. Ein dumpfes Pochen, von irgendwo tief drinnen. Nicht vom Dachboden, nicht vom Keller. Es kam von den Wänden selbst.

Martha legte die Hand an das alte Mauerwerk. Sie fühlte eine leichte Vibration, als ob etwas dahinter lebte, gefangen, ungeduldig.

„Hier“, murmelte sie. „Es ist hier.“

Jakob trat zögernd näher. „Ich habe es immer gehört. Seit jener Nacht. Ich dachte, es sei mein Gewissen. Aber vielleicht…“

Er verstummte, als fürchte er die eigenen Gedanken.

Martha nahm das Tagebuch, das sie bei sich trug, schlug es auf. Eine Seite war mit kräftigen Strichen durchzogen, unlesbar gemacht. Doch darunter, im schwachen Licht, konnte sie noch Worte erkennen. „Mauer… Geheimnis… Herzschlag.“

Ihre Hände zitterten. „Er wusste es. Ernst hat etwas zurückgelassen.“

Der Hund begann zu kratzen, an genau der Stelle, an der das Klopfen am stärksten war. Staub rieselte von den Fugen, kleine Steine lösten sich. Martha wich zurück.

Jakob stöhnte, seine Hand fuhr über das Gesicht. „Nein. Lass es ruhen. Du weißt nicht, was du weckst.“

„Vielleicht weiß ich es nicht. Aber ich weiß, dass die Toten nicht ruhen, wenn die Lebenden schweigen.“

Sie griff nach einem losen Stein, zog daran. Die Fuge gab nach. Mit Mühe riss sie den Stein aus dem Mauerwerk, dann den nächsten. Staub hüllte sie ein, die Luft wurde schwer, und das Pochen wurde lauter, drängender.

Hinter den Steinen tat sich ein Hohlraum auf. Dunkel, feucht, der Geruch von Moder und altem Eisen drang heraus. Martha leuchtete mit einem kleinen Taschenlicht, das sie aus ihrer Manteltasche zog.

Der Strahl fiel auf etwas, das ihr den Atem nahm.

Ein Skelett. Eingeklemmt zwischen den Mauern, die Knochen schief, als wäre der Körper hastig hineingepresst worden. Ein Ring glänzte an der knöchernen Hand, alt, aber unverkennbar.

Jakob brach zusammen. „Ernst.“

Das Pochen verstummte. Mit einem Mal war die Stille überwältigend, so dicht, dass sie fast schmerzte.

Martha konnte kaum atmen. Ihr Herz raste, ihre Gedanken überschlagen sich. Jahrzehnte war dies verborgen gewesen, ein Geheimnis, das in Stein eingeschlossen war.

Jakob lag auf den Knien, seine Hände zitterten, die Augen voller Tränen. „Ich habe ihn nicht so dort zurückgelassen. Ich schwöre es. Ich wollte ihn begraben, aber ich… ich konnte nicht.“

Martha kniete sich neben ihn. „Es war nicht nur deine Schuld. Es war die Feigheit, das Schweigen, das dich gefangen hielt. Aber jetzt haben wir ihn gefunden.“

Der Hund legte sich nieder, seinen Kopf auf die Pfoten, als sei auch er erschöpft von dem, was er heraufbeschworen hatte.

Für einen Moment glaubte Martha, es sei vorbei. Das Klopfen war verschwunden, die Wahrheit lag offen. Doch dann hörte sie ein anderes Geräusch.

Ein Wispern. Leise, kaum hörbar, aber da. Es kam nicht von draußen, nicht von den Wänden. Es kam direkt aus der Dunkelheit des Hohlraums.

Jakobs Gesicht erbleichte. „Er ist nicht gegangen.“

Martha starrte in die Tiefe. Das Licht ihrer Lampe zitterte, flackerte. Zwischen den Knochen schien sich etwas zu bewegen. Ein Schatten, so fein wie Rauch, löste sich, kroch langsam heraus, formte sich in der Luft.

„Martha.“

Diesmal war es nicht Jakobs Stimme. Es war eine andere. Hart, fordernd, voller Zorn.

Der Hund sprang auf, das Fell sträubte sich, er bellte heftig, stellte sich schützend vor sie.

Martha wich zurück, doch der Schatten formte sich weiter, hob den Kopf, Augen glimmten wie Kohlen.

Die Stimme wiederholte sich, lauter, schneidender. „Martha.“

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