Regenhund | An verregneten Tagen erschien ein fremder Hund und führte sie zu einem jahrzehntelang begrabenen Geheimnis

🐾 Teil 10: Der letzte Ruf

Die Stimme durchschnitt die Luft wie ein Messer. Martha wich zurück, das Herz schlug wild, und doch konnte sie den Blick nicht von dem Schatten lösen, der sich aus der Wand gelöst hatte. Er schwebte über den Knochen, formte für einen Augenblick die Konturen eines Gesichts, scharf, streng, voller Groll.

„Martha“, wiederholte er, diesmal lauter.

Der Hund bellte, sprang vor, seine Zähne blitzten. Das Knurren vibrierte durch den Raum, doch der Schatten wich nicht. Er schien den Hund kaum wahrzunehmen, als sei er nur an sie gebunden, an Martha.

Sie hob das Tagebuch, das sie noch immer bei sich trug. Ihre Hände zitterten, doch ihre Stimme war fest, als sie rief: „Ernst, hör mir zu. Es ist genug! Dein Bruder hat gelitten, sein Leben im Schweigen verbracht. Was willst du noch?“

Der Schatten schwankte, als habe er ihre Worte gehört, und doch verstärkte sich sein Flüstern, unverständlich, wie ein Chor aus Wut und Schmerz.

Jakob kroch vor, seine Hände ausgestreckt. Tränen liefen über sein Gesicht, seine Stimme brach. „Ernst, verzeih mir! Es war ein Unfall, ich habe dich nicht gewollt. Ich wollte dich nie verlieren.“

Das Wispern wurde lauter, ein Dröhnen, das die Mauern erzittern ließ. Martha hielt sich die Ohren zu, doch die Worte krochen trotzdem in ihren Kopf. Der Hund heulte, langgezogen, und der Laut schnitt durch das Dröhnen wie ein Messer durch Stoff.

Ein Augenblick der Stille. Dann schwächte sich der Schatten ab, verlor an Form, löste sich in Rauchfäden, die durch den Riss in der Wand verschwanden. Nur ein leises Echo blieb, ein Atemzug, der langsam verklang.

Jakob sank zusammen. Seine Brust hob und senkte sich schnell, er zitterte am ganzen Körper. Martha kniete sich neben ihn, legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Es ist vorbei“, flüsterte sie.

Doch tief in sich wusste sie, dass es nie ganz vorbei sein würde. Man konnte die Vergangenheit nicht auslöschen, man konnte ihr nur begegnen, sie benennen, damit sie aufhörte, wie ein Gespenst in den Wänden zu leben.

Der Hund legte sich neben sie, sein Fell dampfte, als habe er den Regen selbst aus der Dunkelheit getragen. Seine Augen waren weich geworden, nicht mehr streng. Er wirkte, als sei auch seine Aufgabe fast erfüllt.

Gemeinsam verließen sie den Keller. Draußen war die Luft frisch, der Himmel klar, als hätte der Sturm die Nacht gereinigt. Der Mond stand hell über dem Harz, und Martha atmete tief ein, als hätte sie seit Jahren nicht mehr frei geatmet.

Jakob setzte sich schwerfällig auf die Bank vor dem Haus. Er wirkte gebrochen, aber auch leichter, befreit von einer Last, die ihn Jahrzehnte gebunden hatte. Seine Augen suchten ihre, und zum ersten Mal war darin nicht nur Schuld, sondern auch Dankbarkeit.

„Du hast mich gerettet“, sagte er leise. „Nicht vor Ernst, sondern vor mir selbst.“

Martha schüttelte den Kopf. „Der Hund hat uns geführt. Ohne ihn hätten wir nichts gefunden.“

Sie blickten beide zu dem Tier, das still vor ihnen saß. Sein Fell glänzte im Mondlicht, und doch wirkte er fast durchscheinend, als sei er nie wirklich von dieser Welt gewesen. Martha streckte die Hand aus, berührte seinen Kopf. Sie spürte Wärme, ein kräftiges Leben, und zugleich etwas, das sich verabschiedete.

„Bleibst du?“ fragte sie, auch wenn sie die Antwort bereits ahnte.

Der Hund sah sie lange an, dann erhob er sich, ging langsam zum Gartentor. Dort blieb er stehen, drehte sich ein letztes Mal um. Seine Augen funkelten wie zwei kleine Sterne, voller Ruhe. Dann trat er hinaus in die Nacht, und im nächsten Moment war er verschwunden.

Martha spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Ein Teil von ihr wollte ihm nachlaufen, ihn zurückrufen, doch sie wusste, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte. Er war nie nur ein Hund gewesen, sondern ein Wächter, ein Führer durch das Dunkel der Erinnerung.

Sie wandte sich zu Jakob. Er sah schwach aus, aber er lächelte, ein kleines, gebrochenes Lächeln, das sie tief berührte.

„Komm“, sagte sie. „Wir gehen nach Hause. Mein Haus, nicht dieses.“

Er nickte, ließ sich von ihr aufhelfen. Gemeinsam gingen sie langsam die Straße hinunter, weg von dem alten Gemäuer, das nun schweigsam hinter ihnen lag. Die Nacht war still, nur ihre Schritte klangen auf dem nassen Pflaster.

In Marthas kleinem Haus brannte bald wieder Licht. Sie bereitete Tee, stellte zwei Tassen auf den Tisch. Jakob saß ihr gegenüber, den Blick auf die dampfende Tasse gerichtet, als sehe er darin die Jahre, die er verloren hatte.

„Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt“, sagte er leise.

Martha nahm seine Hand. „Niemand von uns weiß das. Aber wir haben diese Nacht, und vielleicht noch ein paar Morgen. Das reicht, um neu anzufangen.“

Sie saßen lange schweigend beieinander. Draußen zog der Wind über die Dächer, aber er klang nicht mehr bedrohlich. Er klang wie ein Lied, das man längst vergessen hatte und nun wieder hörte.

Martha fühlte sich müde, aber nicht mehr einsam. Sie wusste, dass der Hund nicht zurückkehren würde. Und doch war er da, in ihrer Erinnerung, in dem stillen Vertrauen, das er ihr geschenkt hatte. Er hatte sie geführt, dorthin, wo sie Antworten finden musste.

Als die Uhr Mitternacht schlug, sah sie zum Fenster hinaus. Für einen Moment meinte sie, eine Gestalt im Regen zu sehen, groß, dunkel, mit leuchtenden Augen. Doch als sie blinzelte, war da nichts mehr. Nur das nasse Pflaster, das den Mond spiegelte.

Sie legte die Hand auf Jakobs Arm, und er nickte, als habe er es auch gesehen.

Die Vergangenheit war nicht verschwunden. Aber sie war nicht länger eine Kette, die sie fesselte. Sie war ein Fluss, der nun endlich weiterfließen durfte.

Und so schloss Martha die Augen, atmete tief und spürte, dass in diesem Regen, in dieser Nacht, ein Neubeginn lag.

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