Schattenhund | Ein Hund aus der Vergangenheit bringt ihn zurück ins Leben und enthüllt ein verborgenes Geheimnis

🐾 Teil 4: Spuren im Morgengrau

Jonas stand reglos vor der Hütte. Der Brief noch in der Jackentasche, Rex dicht an seiner Seite. Der Hund schnupperte aufgeregt, ging zwei Schritte nach vorne, die Nase tief am Boden. Jonas folgte dem Blick. Die Spuren waren deutlich.

Stiefelabdrücke. Frisch. Viel größer als seine eigenen. Nicht verwischt durch Regen oder Wind. Die Tautropfen ringsum waren noch unberührt, doch genau dort, wo die Sohlen den Boden gedrückt hatten, glänzte das Gras bereits trocken.

Jemand war hier gewesen.

Und zwar erst vor Kurzem.

Jonas fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Die Luft war plötzlich schwer. Wer, um Himmels willen, konnte wissen, wo dieser Karton lag? Wer wusste von der Hütte? Wer hatte Falks Erkennungsmarke und den Stoffbären zurückgebracht?

Er beugte sich hinunter. Die Sohle war grob, tief profiliert. Kein Wanderschuh aus dem Sportladen. Eher etwas, das Sicherheitskräfte tragen. Oder Soldaten.

Rex knurrte leise.

Jonas hob die Hand, beruhigte ihn flüsternd. Sein Blick wanderte über die Bäume. Alles war ruhig. Zu ruhig. Nicht einmal ein Vogel war zu hören. Nur das leichte Knacken der Äste im Wind.

Er drehte sich um, ging langsam zurück zur Hütte. Noch einmal überprüfte er alles. Nichts deutete auf einen Kampf. Keine verwischten Spuren, kein zertrampeltes Laub. Nur Ordnung. Sorgfältige Ordnung.

Wie bei jemandem, der genau wusste, was er tat.

Zurück im Haus nahm Jonas den Brief noch einmal zur Hand. Die Worte hallten in ihm nach. „Er war nie mein Hund. Er war immer eurer.“ Das war kein Satz aus einem Abschiedsbrief. Das war eine Übergabe. Eine Einladung, etwas fortzuführen.

Er streichelte Rex über den Kopf. Das Tier lehnte sich leicht an sein Bein, warm, lebendig, gegen alles, was Jonas sich die letzten Jahre einzureden versucht hatte.

Am Nachmittag fuhr er nach Aue. Er parkte am Rand der Innenstadt, holte sich einen heißen Kaffee aus dem Kiosk am Bahnhof und setzte sich auf eine Bank. Rex blieb im Auto. Er wollte nicht, dass jemand Fragen stellte. Noch nicht.

Er zog sein altes Notizbuch hervor und schrieb. Einfach nur schrieb. Namen, Erinnerungen, Bilder. Die Gesichter der Kameraden. Die letzten Gespräche. Und schließlich ein Wort, das er seit Jahren vermied:

Schuld.

Er starrte es lange an. Dann schrieb er daneben ein zweites Wort.

Vergebung.

Zum ersten Mal seit langem zitterte seine Hand nicht mehr.

Auf dem Rückweg bog er nicht direkt zum Haus ab. Stattdessen fuhr er die kleine Straße hinauf zur alten Funkstation auf dem Hügel. Dort hatte man früher in alle Richtungen Sicht gehabt. Heute war alles verwildert, das Gelände gesperrt. Doch Jonas kannte die Lücken im Zaun.

Oben angekommen, stellte er sich an den rostigen Aussichtsturm. Von hier konnte man bis weit ins Tal sehen. Die Häuser von Schwarzenberg lagen friedlich unter der Herbstsonne. Rechts davon der Wald, tief und dunkel. Dort, wo die Hütte war.

Und dort, wo jemand mit schweren Stiefeln durch das Gras gegangen war.

Er hörte ein Rascheln hinter sich, fuhr herum. Doch es war nur ein Reh, das erschrocken davonhüpfte.

Rex blieb ruhig.

Zurück im Haus wartete schon das nächste Zeichen.

Jemand hatte einen Zettel in den Briefkasten gelegt.

Ohne Umschlag. Ohne Adresse.

Nur ein Satz, mit krakeliger Handschrift:

„Manche Schatten kehren zurück.“

Jonas’ Nacken prickelte. Die Schrift kam ihm bekannt vor. Aber er konnte sie nicht zuordnen. Kein Name, kein Absender, keine weiteren Worte.

Er setzte sich auf die Treppe, ließ den Zettel auf den Knien ruhen. Rex legte den Kopf auf seine Füße.

Was bedeutete das?

War es eine Warnung? Eine Drohung? Oder ein letzter Gruß von jemandem, der ebenfalls nie zurückgefunden hatte?

Die Nacht war unruhig. Jonas träumte von Sandstürmen, von Stimmen im Funk, von Falks Gesicht, doch diesmal lächelte es. Nicht traurig. Nur still.

Am nächsten Morgen klingelte sein altes Handy. Das erste Mal seit Wochen.

Nummer unterdrückt.

Er hob ab. Sagte nichts.

Einige Sekunden Stille, dann eine Stimme.

„Lenz. Du bist also noch da.“

Jonas’ Herz schlug schneller. Die Stimme war rau, tief. Aber vertraut.

„Wer spricht da?“, fragte er leise.

Keine Antwort. Dann ein Klicken. Die Leitung war tot.

Jonas starrte auf das Handy. Sein Daumen zuckte. Hätte er mehr sagen sollen? Fragen stellen?

Rex sah ihn ruhig an.

„Ich weiß es nicht, Junge“, murmelte Jonas. „Aber irgendjemand spielt ein Spiel mit uns. Und ich fürchte, es hat nie wirklich aufgehört.“

Er ging in den Schuppen. Suchte in den Werkzeugkisten. Ganz unten, in einem alten Blecheimer, fand er es: sein altes Feldmesser. Noch mit dem eingravierten Kürzel „JL“.

Er nahm es mit ins Haus. Legte es neben den Brief. Nicht aus Angst. Sondern weil er spürte, dass die Vergangenheit nun dabei war, sich selbst einzuholen.

Am Abend, als der Wind auffrischte und erste Regentropfen fielen, hörte Jonas ein Winseln.

Nicht draußen.

Im Haus.

Er rannte in den Flur.

Rex stand stocksteif vor der Kellertür. Das Fell aufgestellt, die Ohren gespitzt.

Jonas hielt den Atem an. Dann hörte er es auch.

Ein Kratzen. Von unten.

Langsam. Hart. Immer wieder.


Jonas griff zur Klinke, doch bevor er die Tür öffnete, bellte Rex plötzlich laut und das Kratzen verstummte.

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