Schattenhund | Ein Hund aus der Vergangenheit bringt ihn zurück ins Leben und enthüllt ein verborgenes Geheimnis

🐾 Teil 5: Der Klang der Schuld

Jonas stand vor der Kellertür. Die Hand an der Klinke. Rex neben ihm, angespannt, die Muskeln unter dem Fell zitternd. Das Kratzen war verschwunden, als hätte es sich in der Dunkelheit verkrochen. Doch der Nachhall lag noch in der Luft, wie das Echo eines alten Alarms.

Er wartete. Vielleicht eine Minute. Vielleicht zehn.

Dann drückte er die Klinke.

Langsam öffnete sich die Tür. Eine Welle kalter Luft stieg ihm entgegen, roch nach Metall, Staub und Erde. Die Kellertreppe führte hinab in Schatten, die selbst der Lichtschalter an der Wand kaum durchdringen konnte. Die Birne flackerte, dann blieb sie an.

Er stieg vorsichtig hinab. Jeder Schritt knarrte unter seinem Gewicht. Rex blieb oben, knurrte leise.

Unten war es ruhig. Die Werkbank an der Wand war unberührt, das Regal mit Schraubgläsern, Nägeln und verrosteten Scharnieren sah aus wie immer. Nichts war bewegt. Nichts zerstört.

Doch dann sah er es.

Im hinteren Eck des Raums war der Boden feucht. Eine dunkle Lache, als hätte jemand einen Eimer Wasser ausgegossen. Oder… eine Spur hinterlassen.

Er beugte sich vor. Der Betonboden war rissig, alt. Aber dort, wo die Feuchtigkeit stand, war auch etwas anderes: Schmutz. Kleine Erdklumpen. Und Abdrücke. Wie von Pfoten. Oder bloßen Füßen.

Jonas richtete sich auf, fuhr sich durchs Gesicht. Er wusste nicht mehr, was real war. Doch eines war sicher: Jemand war in seinem Haus gewesen. Nicht durch die Tür. Nicht durch das Fenster. Sondern von unten.

Er trat zurück, schloss die Tür hinter sich. Rex kam sofort zu ihm, drückte die Nase gegen seine Hand.

„Das war kein Tier“, flüsterte Jonas. „Und wenn doch, dann keines, das hierhergehört.“

Er setzte sich an den Küchentisch. Die Erkennungsmarke lag immer noch da. Daneben der Zettel aus dem Briefkasten. „Manche Schatten kehren zurück.“

Die Worte hatten Gewicht bekommen.

Seine Gedanken wanderten zurück zu jener Nacht im Juli 2014. Das Licht über dem Außenposten. Der Funkspruch, der nicht durchkam. Die Entscheidung, den Seitengang zu sichern. Falks Ruf: „Ich geh vor, du sicherst.“

Und dann der Knall.

Er hatte ihn nicht kommen hören. Nur gespürt. Die Druckwelle. Die Hitze. Und dann die Stille danach. Und Rex, bellend, jaulend, mit blutigen Pfoten, rennend in die Finsternis.

Jonas hatte überlebt. Falk nicht.

Sie hatten gesagt, es sei niemandes Schuld gewesen. Dass der Sprengsatz gut versteckt war. Dass solche Dinge geschehen.

Aber Jonas hatte es nie geglaubt.

Am nächsten Morgen beschloss er, Antworten zu suchen. Nicht bei sich selbst. Sondern bei denen, die vielleicht mehr wussten.

Er fuhr nach Chemnitz, ins Archiv der Bundeswehr. Ein ehemaliger Kamerad, der jetzt in der Verwaltung arbeitete, schuldet ihm noch einen Gefallen. Er wusste, dass er dort keine offenen Türen einrennen würde. Doch vielleicht ließ sich etwas finden.

Er wartete eine Stunde im Foyer. Dann kam Martin – hager, mit grauen Schläfen, aber denselben scharfen Augen wie früher.

„Jonas? Mein Gott. Ich dachte, du wärst… weg.“

Jonas nickte nur. „Ich brauche was.“

Sie gingen in ein kleines Büro. Alte Akten, verstaubte Monitore, der Geruch von Druckerpapier.

Jonas erzählte nicht alles. Nur so viel wie nötig.

„Ich will wissen, ob es jemand gibt… der damals bei Falks Einheit irgendwas hinterlassen hat. Etwas über den Hund. Oder… über die Rückführung.“

Martin sah ihn lange an. Dann sagte er: „Es gab einen Bericht. Verschwand irgendwann aus der offiziellen Liste. Ich dachte immer, das war ein Fehler.“

Er suchte. Blätterte durch einen Ordner, dann durch einen anderen.

„Da.“

Ein altes Fax. Verblichen, aber lesbar.

„Hund Rex, K9-Einheit, zuletzt gesichtet am 17. Juli 2014, nahe des Außenpostens Omar West. Verweigerte Rückkehr zur Basis. Sichtung durch Zivilisten Wochen später in Dorfregion Khost, schwer verletzt. Aufgenommen von…“

Martin stockte.

„Was?“, fragte Jonas.

Martin runzelte die Stirn. „Da steht ein Name. Aber nicht auf der Liste der Kameraden. Es ist eine zivile Adresse. In Deutschland.“

Er reichte Jonas das Blatt.

Dort, unter dem letzten Absatz, stand:

Aufnahme bestätigt durch: Karl-Heinz Schneider, Geburtsjahr 1953. Wohnort: Bärenwalde, Sachsen.

Jonas fühlte, wie sich die Luft aus seinen Lungen presste.

Falks Vater.

Er hatte nie darüber gesprochen. Niemand hatte erwähnt, dass er den Hund vielleicht bekommen hatte. Jonas war damals zu zerstört gewesen, um bei der Familie vorbeizufahren. Und später… hatte sich die Tür längst geschlossen.

Martin sah ihn an.

„Willst du, dass ich den Kontakt herstelle?“

Jonas schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fahr selbst.“

Am späten Nachmittag kam er in Bärenwalde an. Ein kleines Dorf, ein paar Häuser, viel Wald. Der Himmel war bleigrau. Als er vor dem Haus stand, roter Klinker, gepflegter Garten, ein Briefkasten mit verblasstem Namensschild, wusste er, dass er richtig war.

Er klingelte.

Keine Antwort.

Noch einmal.

Nichts.

Dann, gerade als er sich abwenden wollte, hörte er eine Stimme.

„Er ist nicht mehr hier.“

Jonas drehte sich um. Eine Frau stand am Zaun, vielleicht Anfang sechzig, wetterfeste Jacke, klare Augen.

„Wer?“, fragte er.

„Der Hund. Und der Alte auch nicht.“

„Ich… bin Jonas Lenz. Ich diente mit Falk.“

Ein Moment Stille. Dann öffnete sie das Gartentor.

„Dann komm rein. Du hast einiges zu erfahren.“


In der Küche, zwischen verblassten Fotos und dem Duft von altem Holz, stellte sie Jonas eine Frage, die ihn erschütterte:
„Hat er dich gefunden? Oder hast du ihn gefunden?“

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