🐾 Teil 6: Was niemand sagte
Die Küche roch nach Bohnenkaffee und Möbelpolitur. Die Wände waren mit vergilbten Tapeten bedeckt, über dem Esstisch hing ein altes Foto: Falk als Kind, in kurzen Hosen, lachend mit einem Dackel im Arm. Daneben ein eingerahmter Bundeswehrbrief und ein Schwarz-Weiß-Bild von Karl-Heinz Schneider in Uniform.
Die Frau schenkte Jonas Kaffee ein, stellte die Tasse vorsichtig vor ihn.
„Ich bin Gisela“, sagte sie. „Falks Tante. Ich hab mich um Karl-Heinz gekümmert, als es mit ihm bergab ging.“
Jonas nickte, wusste nicht recht, was er sagen sollte. Der Becher war warm in seinen Händen, aber die Kälte saß tief.
„Er hat nie viel geredet“, fuhr Gisela fort. „Schon gar nicht nach Falks Tod. Aber dann, Wochen später, stand plötzlich ein Hund vor seiner Tür. Abgemagert, verwahrlost, mit einer Narbe über dem Auge.“
Sie sah Jonas an.
„Er wusste sofort, wer es war. Rex. Ohne Zweifel. Der Hund lief direkt auf ihn zu, als hätte er gewusst, wo er hinmusste.“
Jonas schloss die Augen. Er sah den Schatten im Nebel, das leise Winseln, die ruhigen Augen. Ja. Das klang nach Rex.
„Karl hat nie erzählt, woher er von dem Hund wusste. Nur, dass Falk es irgendwie möglich gemacht hatte. Vielleicht war’s ein letzter Rest Hoffnung. Vielleicht Schicksal. Ich weiß es nicht.“
Gisela stand auf, ging zum Schrank, holte einen alten Schuhkarton. Darin lagen Briefe, Notizen, Fotos.
„Er hat alles aufbewahrt. Und bevor er starb, hat er gesagt: ‚Wenn Jonas je kommt – gib’s ihm.‘“
Jonas nahm den Karton mit zitternden Händen. Er öffnete ihn langsam.
Obenauf ein Foto: Rex, in einem Garten, neben einem alten Mann mit faltigem Gesicht und traurigem Blick. Beide sahen in dieselbe Richtung.
Dann ein Brief, grob gefaltet, mit seinem Namen auf dem Umschlag. Jonas. In krakeliger, zittriger Handschrift.
Er öffnete ihn.
„Junge,
Ich weiß nicht, ob du je hierherfindest. Aber ich hoffe es.
Rex war nie nur ein Hund. Er war Falks Herz. Und vielleicht auch deins.
Ich habe ihn gepflegt, so gut ich konnte. Er hat getrauert, genau wie wir. Aber irgendwann hat er begonnen, nachts zu verschwinden. Tage, manchmal Wochenlang.
Ich glaub, er hat gesucht. Nach dir.
Wenn du das hier liest, dann ist er bei dir angekommen.
Und das heißt: Du bist noch nicht fertig.
Verzeih dir selbst. Falk hätte es gewollt.
Karl-Heinz“
Jonas schluckte schwer. Die Worte drangen tief. Mehr als all die Beileidsbekundungen, mehr als die Therapiesitzungen, mehr als jedes Gespräch mit Fremden, die nie wirklich verstehen konnten.
Er sah Gisela an. Ihre Augen glänzten.
„Wo ist Rex jetzt?“, fragte er leise.
„Vor etwa zwei Wochen hat er sich wieder aufgemacht“, antwortete sie. „So, wie er es immer getan hat. Nur diesmal kam er nicht zurück.“
Jonas’ Herz pochte schneller. Zwei Wochen. Genau der Zeitpunkt, als er den Hund zum ersten Mal gesehen hatte.
„Er hat mich gefunden“, sagte er. „Ich dachte, ich bilde es mir ein. Aber er war es wirklich.“
Gisela nickte, als hätte sie es längst gewusst.
„Er war nie ein Tier, das sich einfach irgendwo niederlässt. Er hatte eine Aufgabe. Und die hat er zu Ende gebracht.“
Jonas blieb noch eine Weile. Er trank den Kaffee, sah sich die Fotos an, hörte Geschichten aus Falks Kindheit. Über seinen Mut. Seine Wut, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. Seine Ruhe, wenn andere ausrasteten.
„Er war immer älter, als er aussah“, sagte Gisela einmal leise. „Und doch ist er nie alt geworden.“
Als Jonas aufbrach, drückte sie ihm den Karton in die Hand. „Nimm es mit. Es gehört dir.“
Er fuhr schweigend zurück. Die Straße wand sich durch Wälder, an Feldern vorbei. Die Landschaft veränderte sich kaum, doch in ihm war etwas anders. Als hätte jemand eine Tür geöffnet, die lange verschlossen war.
Zu Hause angekommen, war es bereits dunkel.
Rex wartete nicht vor dem Haus. Auch nicht im Garten.
Jonas stellte den Napf dennoch nach draußen, wie jede Nacht. Mit gekochtem Reis, ein paar Fleischstücken.
Dann setzte er sich auf die Treppe.
Die Nacht war klar, der Himmel voller Sterne. Er hörte das Rauschen der Blätter, das Zirpen der Grillen. Und dann, ganz leise, Schritte.
Rex trat aus dem Schatten. Langsam, ruhig.
Er kam bis zum Napf, fraß. Dann setzte er sich neben Jonas, der ihm die Hand auf den Rücken legte.
„Du hast ihn gefunden, nicht wahr?“, flüsterte er. „Du hast ihn gesucht. Und jetzt… suchst du vielleicht mich.“
Der Hund sah ihn an. Lang und ohne Flackern. Und Jonas wusste, dass er recht hatte.
In der Nacht träumte Jonas. Aber es war kein Albtraum.
Er stand auf einem Feld, die Sonne ging gerade auf. Falk lachte, rief ihm zu, warf einen Stock. Rex rannte los, sprang über Grasbüschel, fing den Stock im Flug.
Und Falk sah Jonas an und sagte: „Du bist noch da. Das reicht.“
Als Jonas erwachte, hatte er Tränen in den Augen.
Als er nach draußen trat, sah er frische Kratzspuren an der Tür und darunter, eingeritzt in das Holz, drei Buchstaben: J. F. R.