🐾 Teil 8: Zwischen den Zeilen
Jonas ließ sich auf den kalten Betonboden sinken. Die Kiste vor sich, das Notizbuch in der Hand, den Brief auf dem Schoß. Das Licht aus der nackten Kellerbirne flackerte leicht. Draußen war es längst Nacht geworden, doch die Zeit hier unten stand still.
Er atmete einmal tief durch und begann zu lesen.
„Jonas, wenn du das liest, hat er dich lebendig zurückgebracht.“
Ich weiß nicht, wo du gerade bist, oder wie viel Zeit vergangen ist. Aber ich wusste immer, dass du derjenige sein würdest, der weitergeht. Auch wenn du dir das nicht zutraust.
Rex ist nicht nur ein Hund. Er ist der letzte Zeuge. Der letzte Träger von etwas, das wir nicht zurücklassen durften.
Ich habe dir nie erzählt, was ich mitbekommen habe in jener Nacht. Es war nicht nur ein Angriff. Es war ein gezielter Verrat.
Jonas spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er las weiter, die Worte rissen ihn in einen Strudel aus Erinnerungen und Fragen.
Ich sah, wie jemand aus unserer eigenen Einheit die Position durchgab. Per Funk. Ich war zu weit weg, konnte nichts tun. Und dann kam der Knall.
Ich habe geschwiegen. Vielleicht aus Angst. Vielleicht, weil ich wusste, dass ich nicht mehr lange habe.
Aber Rex hat es gesehen. Und erinnert sich.
Jonas legte den Brief zur Seite. Seine Hände zitterten leicht. Er öffnete das Notizbuch, blätterte durch Seiten voller Feldskizzen, Gedankenfetzen, verschlüsselte Bemerkungen. Auf Seite siebzehn klebte ein Foto. Es zeigte zwei Männer aus der Einheit – einer von ihnen: Oberfeldwebel Reimers.
Ein Name, den Jonas seit Jahren nicht gehört hatte. Und nicht hören wollte.
Er erinnerte sich an Reimers. Laut, arrogant, beliebt bei den Vorgesetzten, aber nie vertrauenswürdig. Damals hatte niemand ihn verdächtigt. Warum auch?
Aber Falk hatte etwas gesehen.
Jonas griff nach dem USB-Stick, steckte ihn oben in das alte Notebook, das noch im Keller stand. Es summte kurz, dann öffnete sich ein Ordner mit der Aufschrift: „Rückweg“.
Darin: drei Videodateien. Alle mit Datum. Die letzte war vom Tag vor dem Anschlag.
Er klickte sie an.
Die Aufnahme war verwackelt, aber deutlich. Falks Stimme, leise: „Das ist nicht offiziell. Ich dokumentiere nur für mich. Sollte mir was passieren… jemand muss es wissen.“
Die Kamera drehte sich zu einem Zelt. Durch eine halb offene Plane war Reimers zu sehen. Mit dem Funkgerät am Ohr. Die Stimme nicht ganz verständlich, doch die Worte „Zeitfenster“, „Position durch“ und „keine Zeugen“ waren hörbar.
Jonas’ Magen zog sich zusammen.
Falk hatte die Wahrheit entdeckt. Und es hatte ihn das Leben gekostet.
Aber warum war das nie aufgetaucht?
Die Antwort lag vielleicht in der Tatsache, dass der Stick versteckt geblieben war. Und Rex… hatte ihn bewacht. All die Jahre. Bis er den Weg zu Jonas zurückgefunden hatte.
Jonas schloss das Notebook, stand langsam auf. In seinem Kopf ratterten Gedanken. Fragen. Entscheidungen.
Am nächsten Morgen fuhr er zur Polizeiinspektion nach Aue. Er übergab den USB-Stick mit einer kurzen Erklärung, forderte keine Antworten, nur, dass man es sich ansieht. Und er bat um Diskretion.
Danach fuhr er zurück. Die Kälte kroch über das Land. Die ersten Flocken des Jahres wirbelten durch die Luft. Rex saß bereits auf der Treppe, als hätte er gewusst, dass Jonas zurückkehren würde.
„Wir haben’s getan, mein Freund“, sagte Jonas leise. „Jetzt ist es nicht mehr nur unsere Last.“
Er ging ins Haus, zündete den alten Kachelofen an. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich das Heim nicht mehr leer an. Nicht wie ein Ort der Flucht, sondern wie ein Ort der Rückkehr.
In den folgenden Tagen kam ein Brief vom Landeskriminalamt. Man habe den Stick geprüft. Die Inhalte seien nun Teil eines laufenden Verfahrens. Reimers sei seit Jahren nicht mehr im Dienst, aber neue Ermittlungen seien eingeleitet worden. Weitere Details könne man nicht geben.
Jonas las die Zeilen und legte sie dann zu den anderen. Er hatte keine Rache gewollt. Nur Wahrheit.
An einem dieser Abende saß er mit Rex im Wohnzimmer, das Radio spielte leise alte Chansons. Jonas las in Falks Notizbuch, ganz hinten, auf einer Seite, die er bisher überblättert hatte.
„Wenn alles gesagt ist, bleibt nur eins: leben.“
Er legte das Buch auf den Tisch, streichelte Rex über das Fell.
„Weißt du, ich glaube, ich weiß jetzt, was du die ganze Zeit wolltest“, sagte er. „Nicht, dass ich dich finde. Sondern dass ich mich selbst wiederfinde.“
Rex hob den Kopf, blinzelte langsam, legte ihn dann wieder auf Jonas’ Knie.
Draußen fiel Schnee. Leise, sacht. Kein Wind, keine Kälte drang durch die Mauern.
Die Welt war ruhig geworden.
Doch in dieser Ruhe lag keine Leere mehr.
In der Morgendämmerung, als alles still war, sah Jonas aus dem Fenster und in der Ferne am Waldrand stand ein zweiter Hund. Still, groß, reglos. Und Rex stand auf.