🐾 Teil 9: Der zweite Hund
Jonas trat an das Fenster. Das Licht war noch schwach, ein blasser Streifen über dem Horizont, der kaum reichte, um die Umrisse draußen zu erkennen. Und doch sah er ihn.
Den Hund.
Nicht Rex. Größer, massiger. Das Fell grauschwarz, die Ohren nach hinten gelegt, der Körper regungslos. Er stand wie ein Denkmal zwischen den Bäumen, so still, dass man ihn für einen Schatten halten konnte.
Rex stand bereits an der Tür, die Rute tief, der Nacken gespannt. Kein Bellen, kein Knurren. Nur gespannte Aufmerksamkeit.
Jonas öffnete die Tür vorsichtig. Kalte Luft strömte herein. Rex trat hinaus, langsam, tastend. Jonas folgte ihm bis zur Treppe und blieb dort stehen.
Der fremde Hund bewegte sich nicht. Erst als Rex näher kam, hob er den Kopf leicht. Ein leises, kehliges Brummen war zu hören, kaum mehr als ein Hauch.
Dann geschah etwas Unerwartetes.
Rex setzte sich.
Nicht in Abwehrhaltung. Auch nicht in Unterwerfung. Sondern ruhig, wie in einem stillen Einverständnis. Der andere Hund tat es ihm gleich. Und für einen Moment standen sie da, Rücken an Rücken, Augen nach vorne, wie zwei Wachen, die ein unsichtbares Tor bewachten.
Jonas hielt den Atem an.
Dann trat der fremde Hund vor. Ein paar Schritte nur. Er sah Jonas an, direkt, durchdringend. Und in diesem Blick lag nichts Wildes, nichts Bedrohliches. Es war, als ob auch er eine Botschaft trug.
Jonas flüsterte: „Wer bist du?“
Natürlich bekam er keine Antwort.
Doch da war etwas in seinem Inneren, das sich regte. Ein Gefühl, das er nicht benennen konnte. Eine Erinnerung, die keine Worte brauchte.
Der Hund blieb noch einen Moment stehen, dann drehte er sich um, verschwand zwischen den Bäumen, als hätte der Nebel ihn mitgenommen.
Rex blieb zurück, sah ihm lange nach.
Jonas trat zu ihm, legte die Hand auf seinen Kopf.
„Du kennst ihn, nicht wahr?“
Rex legte sich nieder, ruhig, mit dem Blick in den Wald. Als würde er warten. Oder wachen.
In den folgenden Tagen kam der fremde Hund nicht zurück.
Doch etwas hatte sich verändert. Die Träume, die Jonas quälten, wurden seltener. Die Stimmen im Kopf leiser. Stattdessen kamen Erinnerungen, die er lange verdrängt hatte. Gute Erinnerungen. Falk, wie er lachte. Rex, wie er durch den Sand sprang. Die Gespräche am Feuer. Die Stille zwischen zwei Einsätzen, in der manchmal mehr Wahrheit lag als in jedem Bericht.
Jonas schrieb weiter. Stapelweise. Er begann, die Seiten zu sortieren, ordnete sie nach Themen, Zeiten, Menschen. Er wusste nicht, was daraus werden sollte. Aber es fühlte sich an wie etwas Echtes. Etwas, das bleiben konnte.
Eines Abends, als der Schnee wieder fiel, klingelte es an der Tür.
Jonas erstarrte. In all den Wochen war niemand gekommen. Er öffnete vorsichtig.
Ein Mann stand draußen. Um die fünfzig. Wettergegerbtes Gesicht, blauer Parka, Mütze tief ins Gesicht gezogen.
„Herr Lenz?“
Jonas nickte.
„Ich bin von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Bertram. Ich wollte nicht unangekündigt kommen, aber… Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung. Es gibt Hinweise, die Reimers belasten.“
Jonas ließ ihn eintreten. Rex beobachtete den Besucher ruhig, blieb aber dicht bei Jonas.
Sie setzten sich an den Tisch. Bertram legte eine Mappe auf. Einige Fotos, ein paar Kopien von Berichten, dann ein Ausdruck des USB-Inhalts.
„Wir haben Ihre Informationen überprüft. Der Verdacht erhärtet sich. Reimers war damals in Kontakt mit einer zwielichtigen Firma, die Zugang zu Bewegungsdaten der Patrouillen hatte. Es sieht so aus, als hätte er Positionen gezielt weitergegeben.“
Jonas schloss die Augen.
„Und was passiert jetzt?“, fragte er leise.
„Ermittlungen laufen. Es wird dauern. Aber wir danken Ihnen für Ihren Mut. Ohne Sie…“
Bertram brach ab. Schaute Jonas ernst an.
„Sie haben mehr getan als viele andere.“
Jonas nickte. Worte waren gerade nicht nötig.
Als Bertram ging, stand er noch lange auf der Schwelle.
„Wenn Sie irgendwann… über alles sprechen wollen. Oder es veröffentlichen möchten. Wir helfen gern.“
Jonas schloss die Tür. Lehnte sich dagegen. Atmete tief durch.
Veröffentlichen? Vielleicht.
Aber noch nicht jetzt.
Er ging nach draußen. Rex folgte ihm wie ein Schatten. Der Schnee lag weich auf dem Boden, dämpfte jedes Geräusch. Die Welt war still.
Sie liefen zum Waldrand, dort, wo der andere Hund gestanden hatte. Jonas ließ den Blick über die Bäume schweifen.
Da war niemand.
Und doch spürte er es wieder. Diese Gegenwart. Dieses Wissen, nicht allein zu sein.
Rex schnüffelte an einer Stelle, scharrte ein wenig. Dann setzte er sich, sah Jonas an.
Der bückte sich, hob ein kleines Stück Holz auf.
Darin eingeritzt: F.S.
Jonas drehte es in der Hand. Es war alt. Ausgetrocknet. Vielleicht Jahre alt.
Vielleicht von Falk selbst.
Vielleicht vom Vater.
Vielleicht vom Schatten, der nie ganz verschwunden war.
Er steckte das Holz ein. Drehte sich um.
„Komm, Rex. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.“
Doch in der Nacht, als Jonas endlich einschlief, stand der fremde Hund wieder im Garten und diesmal trug er etwas im Maul.