🐾 Teil 4: Der Blick in den Sturm und fremde Spuren
Aus dem Weiß des Schnees trat eine schlanke Frau, den Mantel eng um den Körper gezogen.
Ihre Schritte waren vorsichtig, als müsste sie sich an jeden Meter herantasten.
Johann brauchte einen Moment, um sie zu erkennen.
Es war Anna Krämer, die Lehrerin aus dem Nachbardorf, die nur selten nach Kaltenbronn kam.
Ihr Gesicht war gerötet von der Kälte, aber in den Augen lag etwas, das nicht vom Wetter kam.
„Johann, ich muss mit dir sprechen“, sagte sie, kaum außer Atem.
„Es geht um den Hund.“
Schneepfoten stand still, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als versuche er, ihre Stimme zu prüfen.
Der Welpe quietschte leise im Hintergrund.
Anna trat näher, hielt aber einen respektvollen Abstand.
„Ich habe ihn schon vor Monaten gesehen, weit draußen, jenseits der alten Bahnlinie.
Er war nicht allein. Eine Hündin war bei ihm.
Sie war trächtig.“
Ihre Stimme wurde leiser.
„Ich glaube, sie hat den letzten Sturm nicht überlebt.“
Johann spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog.
Er dachte an die Tage, an denen Schneepfoten verschwand, bevor er ihn regelmäßig begleitete.
Vielleicht war er damals zu dieser Hündin zurückgekehrt, vielleicht hatte er versucht, sie zu beschützen.
Anna sah sich um, ihre Blicke glitten über die Scheune, die Spuren im Schnee, den kleinen Korb in der Ecke.
„Der Welpe könnte ihrer sein.
Wenn das so ist, dann hat er jetzt nur noch ihn.“
Der Wind frischte auf, kleine Schneeflocken trieben zwischen ihnen hindurch.
Johann nickte knapp.
„Dann müssen wir sehen, dass wir sie ins Dorf bringen, bevor der Sturm kommt.“
Sie packten gemeinsam, was sie tragen konnten: den Korb mit dem Welpen, ein Bündel Decken, etwas Futter.
Schneepfoten lief immer zwischen ihnen, als wolle er beide im Blick behalten.
Der Weg zurück ins Dorf war schwer, der Schnee bis zu den Knien, der Himmel immer dunkler.
Als sie Johanns Haus erreichten, war der Sturm schon da.
Der Wind drückte gegen die Tür, der Ofen knisterte, als er neues Holz nachlegte.
Anna half, den Welpen einzurichten, prüfte, ob er genug Wärme bekam.
Schneepfoten setzte sich in den Türrahmen und beobachtete jede Bewegung.
Der Sturm hielt zwei Tage an.
Draußen tobte der Wind, drückte den Schnee gegen die Fenster, ließ das Dach ächzen.
Drinnen entstand eine seltsame Stille, unterbrochen nur vom Knistern des Feuers und den leisen Lauten des Welpen.
Anna blieb, half beim Füttern, sprach wenig, aber wenn sie sprach, war ihre Stimme weich.
Am dritten Morgen war der Himmel klar, der Schnee glitzerte wie ein endloses Meer.
Johann wollte zum Finkhof, um nachzusehen, ob der Sturm Schaden angerichtet hatte.
Anna bot an, mitzukommen.
Schneepfoten lief voraus, seine Pfoten hinterließen scharfe Abdrücke im frischen Schnee.
Der Hof stand still, als wäre er eingeschlafen.
Die Bretter, die sie vor dem Sturm angebracht hatten, hielten noch.
In der Scheune lag ein leichter Geruch von Rauch, aber keine frischen Spuren außer den ihren.
Johann war erleichtert, doch etwas ließ ihn unruhig werden.
Anna entdeckte es zuerst.
Im Schnee hinter dem Hof verlief eine Reihe von Fußabdrücken, größer als die eines Hundes, zu tief, um alt zu sein.
Sie führten vom Waldrand bis fast zur Scheune, dann wieder zurück.
„Jemand war hier“, sagte sie leise.
„Und das nicht vor langer Zeit.“
Johann spürte ein Kribbeln im Nacken.
Er wusste nicht, wer hier draußen unterwegs sein konnte, bei diesem Wetter.
Und warum.
Sie folgten den Spuren ein Stück, doch der Wind hatte bereits begonnen, sie zu verwischen.
Schneepfoten schnupperte am Boden, die Ohren hochgestellt, aber er lief nicht voraus.
Irgendetwas gefiel ihm nicht.
Zurück im Dorf erzählte Johann Brigitte von den Spuren.
Sie runzelte die Stirn.
„Vielleicht nur ein Jäger, der sich verlaufen hat.“
Doch ihre Stimme klang nicht überzeugt.
Im Dorf gab es seit Jahren keinen Jäger, der so weit hinausging.
Die nächsten Tage vergingen ruhig, fast zu ruhig.
Schneepfoten wich nicht mehr lange von Johanns Seite, auch wenn er sonst gern allein unterwegs war.
Der Welpe nahm zu, seine Augen öffneten sich, ein milchig-blauer Blick, der die Welt erst vorsichtig zu prüfen schien.
Johann spürte, wie in seinem Haus eine Wärme wuchs, die nicht nur vom Ofen kam.
Eines Abends, als der Mond den Schnee in silbernes Licht tauchte, hörte Johann draußen ein leises Knirschen.
Nicht der Wind, nicht ein Ast.
Etwas Schweres, das sich durch den Schnee bewegte.
Er griff zur Lampe und öffnete die Tür.
Schneepfoten stand schon auf der Schwelle, der Körper angespannt.
Im Schein der Lampe zeichnete sich eine Gestalt am Rand des Gartens ab.
Zu groß für ein Kind, zu breit für einen schmalen Dorfbewohner.
„Wer ist da?“ rief Johann.
Keine Antwort.
Die Gestalt blieb einen Moment stehen, dann drehte sie sich um und verschwand im Schatten der Bäume.
Johann ging nicht weiter nach.
Er wusste, dass der Schnee am Morgen die Spuren verraten würde.
Schneepfoten blieb noch lange am Zaun sitzen, den Blick in die Dunkelheit gerichtet.
Am nächsten Tag fand Johann die Spuren, tief und klar.
Sie führten nicht ins Dorf, sondern hinaus, in Richtung jener verlassenen Höfe, die noch weiter entfernt lagen als der Finkhof.
Er folgte ihnen ein Stück, bis der Schnee begann, sie zu verschlucken.
Etwas sagte ihm, dass dies nicht das letzte Mal gewesen war.
Als er zurückkam, fand er Anna im Garten.
Sie stand da, den Welpen im Arm, während Schneepfoten dicht daneben saß.
„Er wird schnell wachsen“, sagte sie leise.
„Und vielleicht brauchen wir bald mehr als nur einen warmen Ofen, um ihn zu schützen.“
Johann nickte.
Er ahnte, dass sich etwas näherte, etwas, das den stillen Rhythmus der letzten Wochen verändern würde.
Und er wusste nicht, ob das Dorf bereit dafür war.
An diesem Abend legte er das Halsband aus der Truhe auf den Tisch.
Es lag da wie ein Schlüssel, zu einer Tür, die er bald würde öffnen müssen.
Draußen fiel der Schnee leise, als wolle er die Welt für einen Moment vergessen lassen, was unter der Oberfläche lauerte.