Schneepfoten | Ein streunender Hund, ein einsamer Postbote und ein Winter, der alles verändert

🐾 Teil 5: Drahtschlingen im Schnee

Der Morgen begann still.
Zu still für Johanns Geschmack.
Selbst der Wind, der sonst über den Hang strich, schien innezuhalten.
Schneepfoten saß im Türrahmen, den Blick zum Waldrand gerichtet, der Welpe schlief zusammengerollt in seiner Kiste.

Johann wärmte seine Hände an der Kaffeetasse und dachte an die Spuren der vergangenen Nacht.
Sie ließen ihm keine Ruhe.
Es war nicht nur die Frage, wer dort gewesen war.
Es war die Art, wie die Gestalt im Dunkeln gestanden hatte, unbewegt, als wollte sie prüfen, was hier vor sich ging.

Er zog den Mantel an, nahm die Lampe und machte sich auf den Weg zum Finkhof.
Schneepfoten folgte ihm sofort, der Körper angespannt, als wisse er, dass dieser Gang mehr war als ein gewöhnlicher Besuch.
Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, der Atem stieg als feiner Dampf auf.

Am Hof war alles still.
Die Bretter, die sie angebracht hatten, hielten noch, keine frischen Fußabdrücke vor der Scheune.
Johann ging um das Gebäude herum, bis er an die Rückseite kam.
Dort, halb im Schatten, entdeckte er eine Spur, die er am Vortag nicht gesehen hatte.
Tiefe Abdrücke, wie von schweren Stiefeln, führten in den Wald hinein.

Er folgte ihnen ein Stück, bis die Bäume dichter wurden.
Der Schnee hier war unberührt, keine Tierspuren, nur diese eine Reihe menschlicher Schritte.
Plötzlich blieb Schneepfoten stehen, das Fell leicht gesträubt, der Blick fest auf eine Stelle zwischen den Bäumen gerichtet.
Johann hob die Lampe, doch das Licht reichte nicht weit genug, um mehr zu erkennen.
Er hörte nur das ferne Knacken eines Astes, dann wieder Stille.

Auf dem Rückweg nahm er sich vor, in den nächsten Tagen nicht allein hinauszugehen.
Es war zu viel Unbekanntes im Spiel.
Zurück im Dorf ging er direkt zu Brigitte und erzählte ihr von den Spuren.
Sie hörte schweigend zu, die Arme verschränkt, und sagte dann nur:
„Es gibt jemanden, der vielleicht mehr weiß. Aber er redet nicht gern.“

Gemeint war Jakob, der alte Waldhüter, der seit Jahren am Rand des Forstes lebte.
Er kannte jeden Pfad, jedes Wild, jede Verwerfung im Schnee.
Johann beschloss, ihn am Nachmittag aufzusuchen.

Der Weg zu Jakobs Hütte führte an der gefrorenen Mühle vorbei, deren Wasserrad stillstand.
Schneepfoten lief vor, blieb aber immer wieder stehen, als müsse er sicherstellen, dass Johann folgte.
Die Hütte lag halb verborgen unter einer Schicht Schnee, aus dem Schornstein stieg dünner Rauch.

Jakob öffnete erst nach längerem Klopfen.
Sein Gesicht war wettergegerbt, der Bart mit Eiskristallen gesprenkelt.
Er musterte Johann und dann den Hund.
„Den kenne ich. Ist oft da draußen unterwegs.“
Seine Stimme war tief, fast rau.

Johann erzählte von den Spuren, von der Gestalt in der Nacht.
Jakob hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, dann trat er einen Schritt zurück und winkte ihn hinein.
Drinnen roch es nach Rauch und getrocknetem Harz.
An den Wänden hingen alte Gewehre, Karten und Bündel getrockneter Kräuter.

„Du bist nicht der Erste, der Spuren gesehen hat“, sagte Jakob schließlich.
„Seit drei Wochen gibt es jemanden im Wald, der nicht hierher gehört.
Ich habe Fallen gefunden, nicht für Wild, sondern für Hunde.
Alte Drahtschlingen, wie man sie früher benutzte.“
Sein Blick wurde hart.
„So etwas macht kein Jäger.“

Johann spürte, wie ihm kalt wurde, und nicht nur vom Wetter.
Er dachte an Schneepfoten, an den Welpen, an die Nächte, in denen sie draußen am Finkhof gewesen waren.
„Warum sollte jemand so etwas tun?“

Jakob zuckte mit den Schultern.
„Manche fangen Hunde, um sie zu verkaufen. Andere… nicht aus Gründen, die du hören willst.“
Er sah Schneepfoten an, der reglos am Türrahmen stand.
„Der da hat Glück gehabt.“

Auf dem Rückweg sagte Johann nichts.
Er hörte nur das Knirschen des Schnees und spürte, wie sich in ihm eine Mischung aus Zorn und Sorge zusammenzog.
Im Dorf angekommen, beschloss er, Anna davon zu erzählen.
Sie hörte ihm aufmerksam zu, und als er geendet hatte, sagte sie leise:
„Dann darf er nicht mehr allein hinaus. Nicht einen Schritt.“

Die Tage danach blieben sie im Dorf.
Schneepfoten schien die neue Vorsicht zu akzeptieren, aber manchmal stand er am Zaun, den Blick zum Wald gerichtet, als höre er etwas, das die Menschen nicht wahrnahmen.
Der Welpe wuchs, seine Beine wurden kräftiger, und er begann, tapsig durch die Küche zu laufen.
Sein Fell war heller als das von Schneepfoten, aber die Augen hatten denselben wachsamen Ausdruck.

Eines Abends brachte Brigitte Neuigkeiten.
Ein Bauer aus dem Nachbartal hatte seinen Hund verloren.
Die Spur führte bis an die Grenze zum Wald, dann verlor sie sich.
Johann wusste sofort, dass dies kein Zufall war.

Noch in derselben Nacht hörte er draußen ein leises Winseln.
Er öffnete die Tür und fand Schneepfoten, der unruhig hin und her lief.
Ohne zu zögern zog Johann den Mantel an, nahm die Lampe und folgte ihm.
Der Hund führte ihn den Hang hinauf, dann in eine Senke hinter der alten Bahnlinie.
Dort, halb im Schnee vergraben, lag eine Drahtschlinge.

Johann kniete sich hin, untersuchte das Metall.
Es war neu.
Und groß genug für einen Hund wie Schneepfoten.

Der Gedanke, dass jemand so nah am Dorf solche Fallen legte, schnürte ihm die Kehle zu.
Er nahm die Schlinge mit, warf sie am nächsten Tag bei Jakob auf den Tisch.
Der alte Waldhüter sah sie an, dann zuckte er kaum merklich.
„Das wird nicht die letzte sein.“

Johann wusste, dass er von jetzt an keine Wahl mehr hatte.
Er musste herausfinden, wer im Wald unterwegs war.
Nicht nur um Schneepfoten willen, sondern auch, weil er ahnte, dass diese Geschichte tiefer reichte, als es im Moment schien.

Am Abend saß er lange am Tisch, das alte Halsband vor sich, den Blick auf das Messingschild gerichtet.
Schneepfoten lag daneben, den Kopf auf den Pfoten.
Der Welpe schlief in der Ecke, ohne zu ahnen, wie nah die Gefahr schon war.

Und draußen, irgendwo zwischen den verschneiten Bäumen, war jemand, der genau wusste, dass im Dorf ein Hund lebte, den es zu holen lohnte.

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