Schneepfoten | Ein streunender Hund, ein einsamer Postbote und ein Winter, der alles verändert

🐾 Teil 6: Ein nächtlicher Besucher hinterlässt ein Stück Stoff

Die Nächte waren wieder unruhig.
Johann wachte öfter auf, ohne genau zu wissen warum.
Manchmal meinte er, draußen ein Knacken zu hören, als trete jemand auf gefrorene Äste.
Manchmal war es nur der Wind, der um das Haus strich.
Doch Schneepfoten blieb dann stets wach, die Ohren aufgestellt, den Blick in die Dunkelheit gerichtet.

Der Welpe begann inzwischen, die Welt auf wackeligen Beinen zu erkunden.
Er stolperte über den Rand seines Korbs, lief ein paar Schritte, bevor er in der Decke hängen blieb und wieder einschlief.
Johann beobachtete ihn oft, und jedes Mal schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht, das er nicht unterdrücken konnte.
Vielleicht, dachte er, war dieser kleine Hund die Zukunft, die Schneepfoten verdiente.

An einem Vormittag kam Jakob ins Dorf.
Er betrat die Poststube mit einem ernsten Blick und legte eine weitere Drahtschlinge auf den Tisch.
„Hab sie heute früh am Waldrand gefunden“, sagte er knapp.
„Frisch gelegt. Noch keine Spur, wer dahinter steckt.“

Johann nahm das Metallstück in die Hand.
Es war kalt und roch nach feuchtem Schnee.
„Das geht zu weit. Irgendwer jagt hier nicht Wild, sondern sucht gezielt Hunde.“
Jakob nickte nur, als wüsste er längst, dass es so war.

Noch am selben Tag berief Brigitte im Wirtshaus eine kleine Versammlung ein.
Nur die, denen man vertrauen konnte.
Anna kam, Jakob, zwei Bauern und der Schmied.
Man sprach leise, als könnten die Wände Ohren haben.
Ein Plan wurde gefasst: Abwechselnd sollten sie in den kommenden Nächten am Waldrand wachen.

Johann meldete sich für die erste Nacht.
Er nahm eine Thermoskanne mit heißem Tee, eine dicke Decke und seine Lampe.
Schneepfoten bestand darauf, mitzukommen.
Sie suchten sich einen Platz auf einer kleinen Anhöhe, von der aus man den Pfad sehen konnte, der zum Finkhof führte.

Die Kälte kroch ihnen in die Knochen.
Der Schnee knirschte nur, wenn einer von ihnen sich bewegte, ansonsten herrschte eine fast unheimliche Stille.
Stunden vergingen, ohne dass etwas geschah.
Doch kurz vor Mitternacht hörte Johann Schritte.
Langsame, bedachte Schritte, die nicht den Weg nutzten, sondern sich durchs Unterholz bewegten.

Er hob die Lampe, doch der Lichtkegel fing nur Schneeflocken ein.
Schneepfoten stand wie versteinert, die Muskeln gespannt.
Dann löste sich eine dunkle Gestalt aus den Bäumen.
Sie trug eine Kapuze, die das Gesicht verbarg, und hielt etwas Langes in der Hand.
Johann konnte nicht erkennen, ob es ein Stock oder ein Werkzeug war.

„Wer da?“ rief er.
Die Gestalt verharrte kurz, drehte dann den Kopf, als prüfe sie, wie weit das Licht reichte.
Ohne ein Wort wandte sie sich ab und verschwand zwischen den Bäumen.
Schneepfoten wollte folgen, doch Johann hielt ihn am Halsfell zurück.
Zu gefährlich, dachte er.
Nicht ohne zu wissen, worauf sie trafen.

Am nächsten Morgen erzählte er den anderen, was geschehen war.
Jakob hörte schweigend zu, dann sagte er: „Das ist kein Zufall mehr. Der kennt den Weg, der kennt uns. Und er weiß, dass hier ein Hund lebt, der mehr wert ist, als du denkst.“

Johann fragte nicht, was er damit meinte.
Er ahnte es.
Schneepfoten war nicht einfach ein Streuner.
Das Halsband, die Briefe, die Ähnlichkeit zu Alrik – all das deutete auf eine Geschichte hin, die noch nicht zu Ende war.

In den folgenden Tagen wich Schneepfoten nicht mehr weit vom Haus.
Der Welpe begann, ihm zu folgen, so gut er konnte, und manchmal blieben die beiden mitten im Hof stehen, als lauschten sie auf etwas, das nur sie hörten.
Anna kam jeden Nachmittag, um zu helfen.
Sie brachte warme Milch für den Welpen und sprach mit Johann über den kommenden Frühling.
Doch zwischen ihren Worten lag die Sorge, die keiner von beiden aussprach.

Eines Abends, als der Himmel rot glühte, ging Johann noch einmal allein zum Finkhof.
Er wollte sehen, ob es neue Spuren gab.
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, der Atem stieg in die kalte Luft.
Als er den Hof erreichte, sah er sofort, dass etwas nicht stimmte.
Die Bretter an der Scheune waren gelöst, einer der Balken hing schief.
Jemand war hier gewesen.

Drinnen roch es anders.
Nicht nur nach Staub und altem Holz, sondern nach fremdem Rauch.
In einer Ecke lag ein Stück Stoff, dunkel, feucht vom Schnee, als hätte es jemand beim Gehen verloren.
Johann hob es auf.
Es war grobes Tuch, wie von einem alten Mantel.
Er steckte es in die Tasche und ging hinaus.

Auf dem Rückweg begegnete er Anna.
Sie trug den Welpen in einer Decke.
„Er war unruhig“, sagte sie.
„Ich dachte, ein kleiner Spaziergang beruhigt ihn.“
Johann erzählte ihr von dem Stoffstück.
Sie sah ihn lange an, dann sagte sie leise: „Das wird nicht aufhören, solange wir nicht wissen, wer dahintersteckt.“

In dieser Nacht schlief Johann kaum.
Er saß am Tisch, das Stück Stoff vor sich, und dachte an die Gestalt im Wald.
Schneepfoten lag vor der Tür, als würde er selbst wachen.
Der Welpe schlief in seinem Korb, das leise Pochen seines Atems der einzige beruhigende Laut im Raum.

Kurz vor Morgengrauen hörte Johann wieder dieses Knacken.
Diesmal stand er sofort auf, öffnete die Tür und trat hinaus.
Der Schnee war frisch gefallen, doch am Rand des Gartens waren deutliche Spuren zu sehen.
Sie führten nicht zum Wald, sondern den Hang hinunter, Richtung alter Bahnlinie.

Johann wusste, dass er diesen Weg bald gehen musste.
Nicht heute, vielleicht nicht allein.
Aber er würde ihn gehen.

Und irgendwo in der Kälte wusste auch Schneepfoten, dass die Jagd noch nicht zu Ende war.

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