Schneepfoten | Ein streunender Hund, ein einsamer Postbote und ein Winter, der alles verändert

🐾 Teil 8: Gift im Fleisch

Johann stand barfuß auf den Holzdielen, den Atem noch warm vom Schlaf.
Vor der Tür stand Schneepfoten, unbewegt, den Kopf leicht gesenkt, die Ohren angespannt.
Kein Laut war zu hören, doch der Hund blickte so fest in die Dunkelheit, dass Johann wusste: dort draußen war jemand.

Er zog den Mantel über den Schlafanzug, schlüpfte in die Stiefel und öffnete langsam die Tür.
Die kalte Luft biss in sein Gesicht, der Schnee knirschte kaum unter seinen Füßen.
Ein schwacher Mondschein legte silberne Streifen auf den Boden.
Nichts bewegte sich – bis Schneepfoten plötzlich loslief.

Johann rief seinen Namen, folgte ihm dann doch, die Lampe in der Hand.
Der Hund rannte nicht weit, blieb am Rand des Gartens stehen und schnupperte.
Im frischen Schnee zeichneten sich klare Abdrücke ab: schwere Stiefel, die von der Bahnlinie heraufkamen und direkt bis an das Haus führten.
Johann kniete sich hin, fuhr mit den Fingern die Spur entlang.
Sie war frisch, vielleicht keine halbe Stunde alt.

Noch bevor er überlegen konnte, hörte er ein leises Geräusch aus Richtung des Schuppens.
Schneepfoten reagierte sofort, stieß ein kurzes, tiefes Bellen aus und lief vor.
Johann rannte hinterher, das Herz schlug hart gegen seine Rippen.
Am Schuppen angekommen, sah er die Tür einen Spalt offenstehen.

Er drückte sie auf.
Drinnen roch es nach Metall und feuchtem Holz.
In der hinteren Ecke bewegte sich etwas.
Eine Gestalt, halb im Schatten, richtete sich auf, und im Licht der Lampe blitzte ein schmaler, kalter Blick auf.
Der Mann war groß, trug einen dunklen Mantel, und in der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein verkürzter Stock – oder der Griff einer zusammengerollten Schlinge.

„Was wollen Sie hier?“ Johanns Stimme war fester, als er sich fühlte.
Der Mann antwortete nicht.
Er trat einen Schritt zur Seite, und im gleichen Moment spannte Schneepfoten den Körper, sprang nach vorn und stellte sich zwischen Johann und den Eindringling.
Das Knurren hallte in der engen Holzhütte wie ein tiefes Summen.

Der Mann hob eine Hand, als wolle er den Hund abwehren, und wich zurück.
Sein Blick glitt kurz zu Johann, dann wieder zu Schneepfoten.
Ohne ein Wort drehte er sich um, stieß die Hintertür des Schuppens auf und verschwand in der Nacht.

Johann wollte hinterher, doch Jakob hatte recht gehabt – allein war das zu gefährlich.
Er rief Schneepfoten zurück und schloss den Schuppen ab.
Drinnen fand er nichts, das fehlte, aber auf dem Boden lag ein Stück gefrorenes Fleisch, eingewickelt in Papier.
Johann hob es auf und roch daran.
Der Geruch war scharf, fremd, und irgendetwas sagte ihm, dass es nicht einfach Futter war.
Er wickelte es ein und legte es beiseite.

Am nächsten Morgen ging er damit zu Jakob.
Der alte Waldhüter nahm einen kleinen Schnitt mit dem Messer, roch daran und verzog das Gesicht.
„Das ist vergiftet“, sagte er leise.
„Er wollte den Hund nicht fangen. Er wollte ihn töten.“

Johann fühlte, wie sich eine Kälte in seiner Brust ausbreitete, die nichts mit dem Winter zu tun hatte.
Er dachte an den Welpen, an Schneepfoten, an die Briefe in der Truhe.
Alles, was sie in den letzten Wochen aufgebaut hatten, war in Gefahr.

Sie beschlossen, dass einer von ihnen in den kommenden Nächten immer in der Nähe von Johanns Haus sein würde.
Jakob bot an, die erste Wache zu übernehmen.
Anna kam am Nachmittag vorbei, um nach dem Welpen zu sehen, und blieb länger als geplant.
Sie brachte ein altes Fotoalbum, das sie von Hildegard bekommen hatte.
Zwischen den Seiten fand Johann ein weiteres Bild von Alrik, Wilhelms Hund.
Die Ähnlichkeit zu Schneepfoten war so stark, dass selbst der Welpe kurz innehielt, als Johann das Foto neben ihn hielt.

Am Abend, als das Feuer im Ofen leise knackte, hörten sie draußen erneut Schritte.
Diesmal war Jakob schon draußen, verborgen hinter der alten Hecke.
Ein kurzer Pfiff, dann ein Rufen und das Geräusch schwerer Schritte, die hastig davonliefen.
Jakob kehrte zurück, schüttelte den Kopf.
„Er ist schnell. Aber er wird unvorsichtiger. Das ist unsere Chance.“

In den folgenden Tagen veränderte sich etwas im Dorf.
Die Leute sprachen offener über den Fremden, erinnerten sich plötzlich an merkwürdige Begegnungen in den letzten Wochen.
Einige hatten ihn gesehen, wie er am Waldrand stand, andere meinten, er habe im Wirtshaus nach einem großen weißen Hund gefragt.
Das Misstrauen wuchs, und damit auch die Bereitschaft, Johann zu helfen.

Eines Nachmittags kam Brigitte mit einer Nachricht.
Ein Junge aus dem Nachbardorf hatte den Mann gesehen, wie er auf dem alten Bahnsteig stand und mit einem Fremden sprach.
Der andere trug eine Tasche, aus der etwas Metallisches ragte.
„Vielleicht verkauft er die Tiere“, sagte Brigitte.
„Oder er bringt sie irgendwohin, wo keiner mehr fragt.“

Johann wusste, dass sie nicht länger nur warten konnten.
Er sprach mit Jakob und Anna, und gemeinsam beschlossen sie, in der nächsten Nacht eine Falle für den Fallensteller zu stellen.
Nicht mit Gewalt, sondern mit Beobachtung.
Sie wollten wissen, wohin er ging und mit wem er sprach.

Die Nacht war klar, der Schnee hart gefroren.
Johann stand mit Schneepfoten im Schatten der alten Mühle, Jakob etwas weiter oben am Hang, Anna nahe dem Bahnübergang.
Der Welpe schlief bei Brigitte, sicher und warm.
Stundenlang geschah nichts, nur das ferne Knacken von Eis in den Ästen.
Dann, kurz nach Mitternacht, tauchte die Gestalt auf.

Der Mann ging schnellen Schrittes, trug einen Sack über der Schulter.
Seine Richtung war eindeutig – hinunter zum Bahnsteig.
Johann gab leise ein Zeichen, und sie folgten ihm in weitem Abstand.
Der Schnee trug jedes Geräusch weiter, deshalb setzten sie ihre Schritte sorgfältig.

Am Bahnsteig stand bereits jemand.
Ein kleinerer Mann mit einer Lampe, der nervös um sich blickte.
Sie sprachen leise, zu leise, um die Worte zu verstehen, aber der Sack wechselte den Besitzer.
Etwas fiel heraus, glitt in den Schnee: ein Halsband aus Leder.
Johann erkannte die Form sofort.
Es war alt, abgetragen und so ähnlich wie das aus der Truhe, dass ihm der Atem stockte.

Er wollte näher heran, doch Jakob legte ihm die Hand auf den Arm.
„Noch nicht“, flüsterte er.
„Lass ihn gehen. Jetzt wissen wir, wo er verkauft.“

Johann nickte widerwillig.
Sie zogen sich zurück, ließen die Männer in der Dunkelheit verschwinden.
Auf dem Rückweg sah Johann zu Schneepfoten hinunter.
Der Hund lief dicht an seiner Seite, als wüsste er, dass die Fäden dieser Geschichte sich enger zogen.

Und Johann wusste, dass die kommende Nacht vielleicht die entscheidendste werden würde.

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