Schneepfoten | Ein streunender Hund, ein einsamer Postbote und ein Winter, der alles verändert

🐾 Teil 10: Die Entscheidung von Schneepfoten

Der Schnee fiel in dichten Schleiern, als hätte der Himmel beschlossen, alles zu bedecken, was in den letzten Wochen geschehen war.
Johann stand am Fenster und sah hinaus.
Schneepfoten lag im Hof, den Kopf zwischen den Pfoten, der Welpe eng an ihn geschmiegt.
In dieser stillen Szene lag etwas Trügerisches, denn Johann wusste, dass die Geschichte noch nicht abgeschlossen war.

Am Vormittag kam Jakob mit einem Brief in der Hand.
„Kam heute früh an. Keine Absenderangabe.“
Das Papier war grob, der Text knapp: Lasst den Hund laufen. Er gehört mir. Ihr habt keine Ahnung, was ihr da haltet.
Darunter ein einzelner Buchstabe, wie eine Signatur, die keiner von ihnen kannte.

Johann legte den Brief neben das alte Halsband.
Er spürte, dass der Fremde nicht nur auf Beute aus war.
Es ging um etwas Persönliches, etwas, das tief in die Vergangenheit reichte.
Anna, die kurz darauf eintrat, sah den Brief und runzelte die Stirn.
„Wenn er glaubt, Schneepfoten gehört ihm, wird er wiederkommen.“

Sie beschlossen, an diesem Abend nicht im Haus zu warten.
Jakob, Johann und Anna wollten gemeinsam hinaus, den Fremden abfangen, bevor er das Dorf erreichte.
Der Welpe blieb bei Brigitte, Schneepfoten ging mit.

Die Nacht war still, der Schnee knirschte leise unter den Stiefeln.
Sie nahmen denselben Weg wie am Vortag, doch diesmal führte Jakob sie tiefer in den Wald.
Er kannte eine Stelle, von der aus man die Bahnlinie und den alten Steinbruch sehen konnte.
Dort blieben sie im Schatten stehen.

Lange geschah nichts.
Dann hörten sie Schritte, langsam, bedächtig.
Die Gestalt trat ins Licht des Mondes.
Es war der Mann mit dem Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Er hielt kein Werkzeug in der Hand, nur ein Stück Stoff, zusammengerollt.
Als er näherkam, erkannten sie, dass es eine Decke war.

Schneepfoten spannte sich, doch Johann legte ihm die Hand auf den Rücken.
Der Mann blieb in wenigen Metern Abstand stehen.
Seine Stimme war tief, brüchig.
„Er war meiner“, sagte er.
„Nicht dieser Hund, aber sein Vater. Alrik. Ich habe ihn im Krieg gefunden, er hat mir das Leben gerettet. Als der Hof brannte, habe ich ihn verloren. Seitdem suche ich.“

Johann hörte zu, ohne den Blick von ihm zu nehmen.
„Und deshalb stellst du Fallen? Vergiftest Fleisch?“
Der Mann senkte den Kopf.
„Ich wusste nicht, wie ich ihn sonst kriegen sollte. Und dann sah ich ihn – fast wie Alrik, sogar die Augen gleich. Ich dachte, wenn ich ihn habe, ist es, als hätte ich den alten Hund zurück.“

Jakob trat einen Schritt vor.
„Das hier ist kein Besitzstück, das man sich nimmt. Er hat sein Leben hier. Du hast kein Recht.“
Der Mann sah kurz zu Schneepfoten, dann wieder zu Johann.
„Vielleicht nicht. Aber wenn er kommt, werde ich gehen.“

Johann kniete sich hin, legte die Hand auf Schneepfotens Hals.
„Willst du gehen?“ flüsterte er, als könnte der Hund ihm eine Antwort geben.
Schneepfoten sah ihn an, ruhig, fest, dann wandte er sich ab, ging ein paar Schritte auf den Mann zu und blieb stehen.
Es war keine Bitte, kein Zögern, nur eine klare Entscheidung.
Er drehte sich um und lief zurück zu Johann.

Der Mann stand still, die Decke in den Händen.
Dann nickte er, fast unmerklich.
„Dann ist es so.“
Er wandte sich ab und ging in den Wald, bis seine Schritte vom Schnee verschluckt wurden.

Niemand sprach auf dem Rückweg.
Im Dorf schlief alles, nur das Licht in Brigittes Fenster brannte noch.
Der Welpe schlief friedlich in der Decke, die Brigitte für ihn gemacht hatte.
Schneepfoten legte sich sofort neben ihn, als wollte er sicherstellen, dass nichts mehr zwischen sie kommen konnte.

In den Tagen danach kehrte Ruhe ein.
Der Winter blieb hart, doch die Angst wich langsam aus dem Dorf.
Jakob sah auf seinen Streifen keine Fallen mehr, und auch der Fremde tauchte nicht wieder auf.
Die Truhe mit den Briefen blieb bei Johann, das alte Halsband lag nun neben einem neuen, das der Schmied für Schneepfoten anfertigte.

An einem klaren Morgen im März machte Johann wieder seine Postrunde.
Schneepfoten lief neben ihm, der Welpe, inzwischen kräftiger, stolperte hinterher und kämpfte mit dem tiefen Schnee.
Die Sonne brach durch die Wolken, das Dorf roch nach nassem Holz und dem Versprechen des Frühlings.

Als sie am letzten Haus ankamen, blieb Johann kurz stehen.
Er sah auf die beiden Hunde, die Spuren im Schnee hinterließen, und spürte, wie sich etwas in ihm löste.
Er wusste, dass Schneepfoten vielleicht nicht hier geboren war, aber jetzt gehörte er hierher.
Nicht, weil jemand ihn besaß, sondern weil er selbst entschieden hatte zu bleiben.

Und manchmal, wenn der Wind vom Wald herüberwehte, blickte Schneepfoten kurz auf, als lausche er einer fernen Erinnerung.
Doch dann wandte er sich wieder dem Weg zu – dem Weg, den er nun jeden Tag mit Johann und dem kleinen Hund gehen würde.

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