Um 14:00 Uhr brach Panik im Großraumbüro aus. Ein schrilles, nervtötendes Piepen drang aus der Decke. Der Feueralarm im 14. Stock hatte eine Fehlfunktion – zum dritten Mal in dieser Woche.
Die Mitarbeiter hielten sich die Ohren zu. Herr Groß rannte im Kreis und schrie in sein Telefon: „Ja, aber wir können so nicht arbeiten! Schicken Sie sofort jemanden!“
Kevin, der IT-Spezialist, stand unter dem Verteilerkasten und starrte ratlos auf die blinkenden Lichter. „Ich bin Programmierer, kein Elektriker!“, rief er verzweifelt.
Mina kam aus dem Archiv. Der Lärm schien sie nicht zu stören. Sie bewegte sich ruhig durch die Menge der aufgeregten Kollegen. Sie ging direkt auf den offenen Schaltkasten zu.
„Hey! Weg da!“, rief Sonja. „Willst du uns alle in die Luft jagen?“
Mina ignorierte sie. Sie zog eine kleine, flache Taschenlampe aus ihrer Jackentasche und leuchtete in das Gewirr aus Kabeln. Ihre Augen verengten sich. Sie sah das Problem sofort: Ein Relais war durch die Feuchtigkeit, die durch das undichte Dach kam, korrodiert und verursachte einen Kurzschluss.
„Hat jemand einen Kugelschreiber?“, fragte sie laut. Die Stimme schnitt durch den Lärm.
Kevin starrte sie an, dann reichte er ihr zögernd seinen Stift.
Mina nutzte die Spitze des Stifts, um vorsichtig eine Brücke im Sicherungskasten zu isolieren und den fehlerhaften Kreislauf zu umgehen. Ihre Hand war absolut ruhig. Millimeterarbeit. Ein Fehler, und der ganze Strom im Stockwerk wäre ausgefallen.
Klick.
Das Piepen hörte auf.
Stille.
Alle starrten Mina an. Kevin stand der Mund offen. „Wie… woher wusstest du, dass das das Hilfsrelais ist?“
Mina steckte die Taschenlampe weg und gab Kevin den Stift zurück. „Logik“, sagte sie knapp. „Wenn das System überlastet ist, muss man den schwächsten Punkt finden und ihn stützen. Oder isolieren.“
Herr Groß kam angerannt, das Telefon noch am Ohr. „Es ist aus? Wer war das?“
„Die Waldfee“, kicherte Julian aus dem Hintergrund, obwohl er blass aussah. „Hat wohl ihren Zauberstab benutzt.“
Herr Groß musterte Mina. Anstatt sich zu bedanken, runzelte er die Stirn. „Sie sind nicht versichert für solche Eingriffe. Wenn das kaputt geht, ziehe ich Ihnen das vom Gehalt ab. Zurück ins Archiv.“
Mina nickte nur. Kein Widerspruch. Keine Verteidigung. Sie wusste, wer sie war. Sie brauchte deren Applaus nicht.
Aber Michael, der in der Ecke stand und den Müll leerte, schüttelte traurig den Kopf. Er sah, was die anderen nicht sahen: Ein Diamant, der im Schlamm lag, und die Leute traten darauf, weil sie ihn für Glas hielten.
Der nächste Tag, Dienstag, brachte keine Besserung. Das Wetter draußen hatte sich verschlechtert. Der Dauerregen war sintflutartig geworden. Nachrichtenmeldungen im Radio sprachen von steigenden Pegelständen an der Mosel und im Süden Deutschlands. Dämme waren gefährdet.
Im Büro interessierte das niemanden. Das Thema des Tages war ein virales Video auf TikTok.
Mina saß in ihrer Mittagspause in der Teeküche und aß ein einfaches Brot. Sonja und ihre Clique kamen herein, die Handys im Anschlag.
„Da ist sie ja!“, rief Sonja mit gespielter Freundlichkeit. „Sag mal, Mina, wir machen gerade eine Umfrage für Social Media. Thema: ‘Worst Fashion Trends’.“ Sie hielt Mina das Handy direkt ins Gesicht. „Erzähl uns doch mal, was dich zu diesem… Look inspiriert hat. Ist das ‚Post-Apokalypse-Chic‘ oder eher ‚Obdachlos im Wald‘?“
Die Kamera lief. Mina kaute langsam, schluckte herunter und sah direkt in die Linse. Ihre Augen waren dunkel und ernst.
„Es ist Kleidung, in der man frieren kann, ohne zu erfrieren“, sagte sie ruhig. „Und in der man sich dreckig machen kann, um anderen zu helfen, die im Dreck sitzen.“
Sonja lachte, ein hässliches, kratziges Geräusch. „Oh Gott, wie pathetisch! Hilfst du den armen Rehen im Wald?“
Julian griff nach Minas Rucksack, der auf dem Boden stand. „Was hat sie da eigentlich immer drin? Bestimmt ein Überlebensmesser!“ Er riss den Reißverschluss auf, bevor Mina reagieren konnte.
Er zog keinen Lippenstift und kein Parfüm heraus. Er zog eine laminierte Karte heraus. Es war keine Straßenkarte. Es war eine topografische Karte mit Höhenlinien, vollgekritzelt mit roten und blauen Markierungen, Koordinaten und Zeitstempeln. Daneben lagen ein Funkgerät (ausgeschaltet) und ein dickes Notizbuch mit der Aufschrift „Einsatzprotokolle“.
„Was ist das denn?“ Julian hielt die Karte hoch. „Spielst du Schatzsuche?“
Mina stand auf. Die Bewegung war so schnell, dass Julian zusammenzuckte. Sie riss ihm die Karte aus der Hand.
„Das ist kein Spielzeug“, sagte sie. Ihre Stimme war jetzt eiskalt. „Das sind Evakuierungsrouten.“
„Evakuierung?“, spottete Sonja. „Wovon träumst du nachts? Dass du die Welt rettest?“
In diesem Moment begann der Boden zu vibrieren.
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