Er hob die rechte Hand und zeigte auf seinen Ring.
— Dezember 1994. Wir waren zweiundzwanzig. Beide Waisen. Beide allein. Wir beschlossen, dass wir nie wieder allein sein wollten. Wir würden Brüder sein. Wenn einer von uns stirbt, kümmert sich der andere um die Familie, die zurückbleibt. Wir haben damals diese Ringe getauscht. Der Ring, den ich trage, war seiner. Er hat mir meinen gegeben.
Ich zog die Kette wieder hervor und sah den Silberring mit neuen Augen an.
— Also… war dieser hier ursprünglich Ihrer?
— Ja, — flüsterte er. — Martin hat meinen Ring getragen. Und jetzt tragen Sie ihn.
Die Wucht seiner Worte traf mich wie ein Schlag.
— Warum hat meine Mutter mir nichts davon erzählt? — fragte ich, die Stimme zitternd.
— Ich weiß es nicht, — seufzte Johannes. — Vielleicht wollte sie loslassen. Vergessen. Und ich war die Erinnerung, die sie nicht ertragen konnte.
Ich stand abrupt auf, der Stuhl scharrte über die Fliesen. Es war zu viel. Zu schnell.
— Ich muss gehen.
— Warten Sie, — bat er.
— Ich kenne Sie nicht, — sagte ich und wich zurück. — Ich weiß nicht, warum meine Mutter Ihren Namen aus unserem Leben gestrichen hat, aber sie hatte ihre Gründe. Und ich vertraue ihr mehr als einem Fremden mit einem Ring. Danke für den Kaffee.
Ich trat hinaus in die kühle Abendluft. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag in meinem kleinen Einzimmerapartment in Neukölln, starrte an die rissige Decke, den Ring in der Faust. Warum hatte meine Mutter mir nie von ihm erzählt?
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich stand auf und holte die Holzschachtel, in der ich die wenigen Erinnerungsstücke an meine Eltern aufbewahrte. Fotos, ein paar alte Briefe.
Ganz unten lag ein Briefumschlag, den ich seit Jahren ignoriert hatte. Auf der Vorderseite stand in der zittrigen Handschrift meiner Mutter: Für Hannah. Wenn du soweit bist.
Ich war nie soweit gewesen. Bis jetzt.
Mit klopfendem Herzen riss ich den Umschlag auf.
Innen lag ein Brief und ein Foto. Auf dem Foto standen zwei junge Männer auf einem Campus, Arm in Arm. Beide grinsten in die Kamera, beide trugen Silberringe an der rechten Hand. Einer war unverkennbar mein Vater. Der andere war ein junger Johannes Falk.
Ich faltete den Brief auseinander. Meine Hände zitterten.
Meine liebste Hannah,
Ich schreibe diesen Brief, bevor mir die Krankheit die letzten Kräfte nimmt. In diesen Tagen denke ich viel darüber nach, was ich in meinem Leben anders hätte machen sollen. Am meisten quält mich, wie ich Johannes aus unserem Leben gedrängt habe.
Dein Vater und Johannes waren beste Freunde. Brüder. Als dein Vater starb, hat Johannes alles versucht, um uns zu helfen. Er bot Unterstützung an, Zeit, Geld, alles. Aber jedes Mal, wenn ich ihn sah, sah ich deinen Vater. Und das tat so weh, dass ich es nicht ausgehalten habe. Also habe ich ihn weggeschoben.
Ich lag falsch. Ich war stolz. Und verletzt. Und voller Angst.
Ich habe dich damit von dem einen Menschen getrennt, der deinen Vater so sehr geliebt hat wie ich. Johannes hat dich vergöttert. Er nannte dich „Hanni“. Er ist dein Patenonkel. Er hielt dich kurz nach deiner Geburt im Arm, trug dich auf seinen Schultern durch den Garten. Er brachte dir Bücher mit, lange bevor du lesen konntest. Er war immer da. Geburtstage, Weihnachten, Grillnachmittage – er war Familie.
Und ich habe ihn uns genommen.
Ich schäme mich dafür. Ich weiß nicht, wie er heute lebt. Ich fürchte mich davor, ihn zu kontaktieren, er könnte glauben, dass wir nur etwas von ihm wollen. Dabei wollte ich nur überleben.
Aber wenn er sich noch einmal meldet, wenn er dich sucht, dann bitte ich dich aus ganzem Herzen: Gib ihm eine Chance. Für ihn. Und für dich. Du musst nicht allein sein.
In Liebe,
Mama
Ich las den Brief drei Mal. Dann rollte ich mich auf dem Bett zusammen und weinte. Ich weinte, weil ich seit zwei Jahren in einem winzigen Apartment lebte, erdrückt von den Schulden aus Mamas Pflege, und mich so unendlich allein gefühlt hatte. Und all die Zeit über hatte es da jemanden gegeben, der nach mir suchte. Der durch die Trauer meiner Mutter aus unserem Leben geschnitten worden war.
Ich sah mir das Foto wieder an. Mein Vater und Johannes. Brüder.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und traf eine Entscheidung.
Am nächsten Morgen wählte ich die Nummer der Zentrale seines Unternehmens aus meinem Büro heraus.
— Zentrale, Büro von Herrn Falk, guten Tag?
— Hier ist Hannah Berger, — sagte ich, erstaunlich ruhig. — Ich muss mit Herrn Falk sprechen.
Zehn Sekunden später hörte ich seine Stimme.
— Hannah? — Er klang atemlos, hoffnungsvoll.
— Können wir uns treffen? Heute. Nach der Arbeit. Gleicher Ort wie gestern.
— Achtzehn Uhr, — sagte er sofort. — Ich bin da.
Johannes wartete bereits, als ich das Café betrat. Der gleiche Tisch. Wieder zwei Cappuccinos. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah ihn diesmal genauer an. Die Müdigkeit um die Augen, die Art, wie er die Hände um die Tasse legte, als hielte er sich daran fest.
— Danke, dass Sie angerufen haben, — sagte er leise. — Haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen?
— Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, — antwortete ich.
Er zuckte zusammen, sein Gesicht verzog sich kurz im Schmerz.
— Es tut mir unendlich leid, Hannah.
— Danke. Aber ich habe einen Brief von ihr gefunden. In dem erklärt sie, warum sie Sie weggeschoben hat. Und dass sie es bereut. Sie wollte, dass ich Sie finde.
Johannes’ Augen glänzten.
— Ich habe ihr nie Vorwürfe gemacht, — sagte er leise. — Trauer macht Menschen… anders. Was ist passiert?
— ALS, — antwortete ich. — Ich habe zwei Jahre lang rund um die Uhr für sie gesorgt und zugesehen, wie sie langsam verschwindet. Als sie schließlich starb, war ein Teil von mir schon vorher gegangen. Aber die Leere blieb. Nach der Scheidung von meinem Stiefvater waren wir ohnehin nur noch zu zweit. Und dann nur noch ich.
— Das klingt unglaublich schwer, — murmelte er.
— Ist es auch. Aber Sie wissen ja, wie es ist, ohne Familie aufzuwachsen. Sie sagten, Sie seien Waisenkind gewesen.
— Ja, — nickte er. — Ich habe die meiste Zeit in Einrichtungen verbracht, hatte aber eine Lehrerin, die an mich geglaubt hat. Sie hat mir geholfen, ein Stipendium zu bekommen. Ohne sie wäre ich nie an die Hochschule gekommen. Aber sie ist seit vielen Jahren tot.
— Das tut mir leid. Haben Sie nie geheiratet?
— Nein. Ich habe mich an das Alleinsein gewöhnt. Die Arbeit frisst alles auf. Es schien einfacher, keine Menschen zu nah ranzulassen.
Ich atmete tief durch. Ich wusste, was ich sagen musste.
— Meine Mutter hatte große Angst davor, dass Sie denken könnten, wir wollten nur Ihr Geld. Und ich möchte das auch nicht. Ich brauche keinen reichen Gönner.
— Machen Sie sich darum keine Sorgen, — antwortete er ruhig.
— Doch. Ich will es klar sagen. Ich will nicht, dass Sie glauben, ich säße nur hier, um etwas zu bekommen.
— Hannah, — unterbrach er mich sanft. — Ich sehe nicht eine Sekunde lang eine „Schnorrerin“, wenn ich Sie ansehe.
Ich senkte den Blick.
— Was ich brauche, ist etwas anderes, — sagte ich leise. — Ich möchte meinen Vater kennen. So, wie Sie ihn kannten. Ich möchte alles hören.
Zum ersten Mal seit unserem Kennenlernen hellte sich sein Gesicht auf.
— Das kann ich, — sagte er. — Ich habe Geschichten. Mehr, als wir heute schaffen.
Und er erzählte. Zwei Stunden lang. Er erzählte von einem Mann, an den ich mich kaum erinnern konnte. Wie sie sich kennengelernt hatten, wie mein Vater ihn in einer seiner dunkelsten Phasen davon abgehalten hatte, alles hinzuschmeißen – das Studium und das Leben. Wie sie drei Tage am Stück wach geblieben waren, um ein Modell für ein wichtiges Projekt fertigzubekommen. Dass mein Vater bei seiner Hochzeit sein Trauzeuge gewesen war. Wie er nachts aus dem Krankenhaus angerufen hatte, als ich geboren wurde, und vor Glück nicht aufhören konnte zu weinen.
— Er hat dich vergöttert, — sagte Johannes. — Er trug immer ein Foto von dir im Portemonnaie und zeigte es jedem. „Das ist meine Tochter Hannah“, sagte er. „Sie wird einmal die Welt verändern.“
— Ich kann mich nicht mal an seine Stimme erinnern, — gestand ich. — Nur an sein Lachen.
— Er hatte eine ruhige, sanfte Stimme, — sagte Johannes. — Er konnte zuhören. Er war ein Lösungsfinder. Und er hat ständig gezeichnet. Servietten, Umschläge, Zeitungen – sein Kopf war immer voller Räume.
Ich holte mein Skizzenbuch aus der Tasche und schlug eine Seite auf. Ein Wohnzimmerentwurf: klare Linien, viel Holz, ein tiefer Ledersessel, Regale voller Bücher.
— Ich mache das auch, — sagte ich verlegen. — Innenarchitektur.
Johannes betrachtete die Zeichnung, und seine Augen wurden groß.
— Das ist großartig, Hannah. Hast du Design studiert?
— Ich habe an der Kunsthochschule angefangen, Innenarchitektur. Zweites Jahr. Dann kam die Diagnose meiner Mutter. Ich habe abgebrochen. Seit ihrem Tod versuche ich, mich mit meinem Gehalt als Büroassistentin über Wasser zu halten. Die Pflegekosten… — Ich brach ab.
— Lass mich helfen, — sagte er sofort.
— Nein. — Ich schüttelte heftig den Kopf. — Ich will kein Geld. Genau davor hatte Mama Angst.
— Es ist kein Almosen, — sagte er ernst. — Es ist ein Versprechen, das ich abgebe, weil dein Vater mir das Leben gerettet hat. Du hast das Recht darauf, dass jemand an dich glaubt, so wie er an mich geglaubt hat.
Ich schwieg. Seine Ehrlichkeit ließ keinen Platz für Stolz.
— Ich weiß nicht, ob ich deine Rechnungen bezahlen darf, — setzte er nach einem Moment hinzu. — Aber ich kann dir Türen öffnen. Chancen geben. Das ist keine Wohltätigkeit. Das ist… Familie.
— Chancen, — murmelte ich. — Das klingt anders.
— Du sagst mir, was du willst, — erklärte er. — Und ich versuche, dir zu helfen, dorthin zu kommen. Mehr nicht.
In den nächsten drei Monaten wurde Johannes zu einem festen Teil meines Lebens. Jeden Donnerstag tranken wir Kaffee. Er brachte Fotos mit, alte Briefe, Anekdoten. Einmal kam er in meine kleine Wohnung in Neukölln. Er sah sich um – die Flohmarkt-Möbel, die ich mühsam aufgearbeitet hatte, die selbst gebauten Regale, die Lichterkette über dem alten Holztisch.
— Das alles hast du selbst gestaltet? — fragte er.
— Ja. Es ist nicht viel, aber…
— Dein Vater hätte es geliebt, — unterbrach er mich. — Er hat immer gesagt, gute Gestaltung hat nichts mit Quadratmetern zu tun, sondern mit Blick und Herz. Und du hast beides.
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