Sie trägt seit zwanzig Jahren einen Ring bis ein fremder Unternehmer ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt

Im November bat er mich in sein Büro. Er rollte die Pläne für den neuen Firmensitz aus.

— Wir haben den Zuschlag bekommen, — sagte er. — Euer Büro hat gewonnen. Und ich möchte, dass du die Innenräume entwirfst.

— Ich? — Ich starrte ihn an. — Johannes, ich bin eine Assistentin. Ich schreibe Protokolle und organisiere Termine.

— Du bist eine Designerin, die im falschen Job feststeckt, — antwortete er. — Ich habe deine Skizzen gesehen. Ich habe deine Wohnung gesehen. Ich will dich als freie Mitarbeiterin. Übliche Bezahlung. Wenn es gut läuft, sehen wir weiter.

— Ich habe keinen Abschluss, — protestierte ich.

— Hatte dein Vater auch nicht, — erinnerte er mich. — Er ist im letzten Semester ausgestiegen. Es hat ihn nicht daran gehindert, brillante Entwürfe zu machen. Talent braucht nicht immer ein Stück Papier. Aber es braucht eine Chance.

Ich hatte Angst. Große Angst. Aber ich dachte an meinen Vater. An die Servietten voller Skizzen. Und an zwei junge Männer, die sich geschworen hatten, füreinander einzustehen.

— In Ordnung, — sagte ich schließlich. — Ich versuche es.

Der Innenausbau des neuen Gebäudes dauerte vier Monate. Ich arbeitete wie noch nie in meinem Leben. Klare Linien, warmes Holz, Textilien, die man anfassen wollte, ruhige Farben. Räume zum Arbeiten, Räume zum Nachdenken.

Als alles fertig war, ging Johannes mit mir durch das Gebäude.

— Das ist ein Kunstwerk, — sagte er schließlich in der Eingangshalle. — Ein Ort, an dem Menschen Zukunft erfinden werden. Dein Vater hätte das geliebt.

Er blieb vor einer Wand im Foyer stehen. Dort war eine bronzene Tafel montiert. Darauf stand:

Dieses Gebäude ist Martin Karl Berger gewidmet.

Architekt, Visionär, Freund, Vater.

Sein Erbe lebt weiter

in den Räumen, die wir schaffen,

und in den Versprechen, die wir halten.

Mir verschlug es die Sprache. Tränen liefen mir übers Gesicht.

— Dein Vater hat es verdient, erinnert zu werden, — sagte Johannes leise. — Jetzt wird er es. Jeden Tag, wenn jemand durch diese Tür geht.

Ich kehrte nie wieder in meine alte Rolle als Assistentin zurück. Johannes vermittelte mich weiter. Andere Unternehmen wurden auf meine Arbeit aufmerksam. Ich zahlte die Pflegeschulden meiner Mutter komplett ab. Ich zog aus der engen Einzimmerwohnung in eine helle Zwei-Zimmer-Wohnung in Friedrichshain. Und ich nahm mein Studium nebenbei wieder auf.

Jeden Donnerstag trinken Johannes und ich immer noch Kaffee. Manchmal grillen wir sonntags in seinem Haus am Stadtrand. Mal zu zweit, mal mit Freunden aus dem „Architektenkreis 1998“.

Ein Jahr nach unserem Wiedersehen nahm Johannes mich zu ihrem jährlichen Treffen mit. Ein privater Raum in einem Restaurant nahe der Hochschule, in der er und mein Vater studiert hatten. Als ich den Raum betrat, standen zehn Menschen auf.

— Das ist also Hannah, — sagte eine Frau mittleren Alters, Professorin für Städtebau. — Du siehst deinem Vater ähnlich.

— Du hast seine Augen, — sagte ein anderer, inzwischen ein bekannter Architekt. — Und sein Lächeln.

Sie stellten sich vor: eine Ärztin, ein Unternehmer für erneuerbare Energien, eine Modedesignerin, ein Ingenieur, eine Richterin, ein Astrophysiker, eine Pädagogin, ein Stadtplaner – und Johannes. Elf Menschen, die sich einmal im Jahr trafen, um sich daran zu erinnern, woher sie kamen.

— Dein Vater war der Kern unserer Gruppe, — sagte die Modedesignerin. — Wir vermissen ihn seit dem Tag, an dem er ging.

— Er hat ständig von dir geredet, — fügte der Ingenieur hinzu. — Schon bevor du laufen konntest, war er sicher: „Meine Tochter wird einmal großartige Dinge bauen.“

Am Ende des Abends schoben sie mir eine kleine Schatulle hin. Innen lag ein Silberring, dem an meiner Kette zum Verwechseln ähnlich. Innen eingraviert: Hannah Berger. Martins Erbe.

— Du gehörst zu uns, — sagte Johannes und legte mir eine Hand auf die Schulter. — Ob du willst oder nicht.

Ich sah den Ring an, sah die elf Gesichter, die mich voller Wärme ansahen.

— Ich werde ihn tragen, — sagte ich und schluckte.

Heute, drei Jahre nach dem Tag, an dem ich in einem Besprechungsraum einen Silberring an einer fremden Hand sah, leite ich mein eigenes Innenarchitekturbüro: „Berger Raumgestaltung“. Wir planen Wohnungen, Büros, kleine Hotels, Cafés. Ich habe ein Team von sechs großartigen Menschen an meiner Seite. Johannes ist immer noch mein engster Freund. Er war der Erste, den ich nach meinem ersten Date mit meinem jetzigen Freund angerufen habe und die beiden verstehen sich hervorragend.

Der Architektenkreis hat mich voll und ganz aufgenommen. Ich fahre jedes Jahr zu den Treffen. Elf beeindruckende Menschen, die mittlerweile meine Wahlfamilie sind. Ich bin weder reich noch berühmt wie manche von ihnen. Aber ich baue etwas auf, worauf mein Vater stolz wäre.

Und ich trage zwei Ringe. Den meines Vaters – den Johannes ihm vor Jahrzehnten geschenkt hat. Und meinen eigenen, vom Architektenkreis. Sie erinnern mich jeden Tag daran: Ich bin nicht allein. Ich bin Teil eines Erbes. Teil eines Versprechens. Teil einer Familie, die mehr ist als Blut, Zeit oder Tod.

Auf meinem Schreibtisch stehen zwei Fotos. Auf dem einen mein Vater und Johannes, jung, lachend, mit zu großen Jacken und großen Träumen. Auf dem anderen die heutige Runde: elf Menschen und ich in der Mitte, mit einem Lächeln, das echt ist.

Wenn ich die Fotos anschaue, begreife ich etwas, das ich früher nicht sehen konnte. Die Geschichte meines Vaters endete nicht mit seinem Tod. Sie lebt weiter in einem Versprechen, das zwei Waisen einander an einem kalten Dezemberabend gegeben haben. In einem Mann, der jahrelang gesucht hat, weil er sein Wort gehalten hat. In Menschen, die mich aufgenommen haben, nur weil ich seinen Namen trage.

Und sie lebt in mir. In den Räumen, die ich entwerfe. In dem Unternehmen, das ich aufgebaut habe. In den zwei Ringen, die ich jeden Tag trage. Mein Vater starb, als ich sechs war. Aber sein Erbe ist nicht mit ihm gestorben. Es hat nur eine neue Form gefunden – in gehaltenen Versprechen, in selbstgewählten Familien und in einer Liebe, die sich weigert zu verblassen.

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