Sommer ohne Leine | Jeden Sommer kehrt ein namenloser Hund zurück und enthüllt ein verborgenes Geheimnis vergangener Jahre

🐾 Teil 4: Regen über dem Kirchhof

Der vierte Tag begann mit Regen.
Er fiel nicht heftig, sondern sachte, ein gleichmäßiges Trommeln auf den Schieferdächern, das den Morgen verschluckte.
Das Dorf roch nach nasser Erde und nach Holz, das in den Schuppen lag.

Fenja saß am Fenster und drückte die Stirn gegen das Glas.
Sie hoffte, den Hund zu sehen, wie er aus dem Wald kam, nass und schüttelnd, bereit, wieder mit den Kindern zu spielen.
Doch der Platz blieb leer.
Die Pfützen spiegelten nur grauen Himmel.

Irmgard Kappel ging mit einem Regenschirm über den Kirchhof.
Ihre Schuhe drückten ins feuchte Gras, und der Wind bog die Zweige der Eiche.
Sie hatte das alte Heft bei sich, eingewickelt in ein Tuch.
Sie wusste nicht, warum sie es mitnahm, nur dass es nicht im Haus bleiben durfte.

Am Grab blieb sie stehen.
Der Regen rann über den Stein, als wolle er die Buchstaben freispülen.
Merten Alver.
Der Name stand da, schlicht und schwer, und darunter das Datum.
Sie strich mit der Hand über die Nässe, und für einen Moment war es, als berühre sie die kalte Stirn eines Kindes.

Ein Laut ließ sie aufsehen.
Es war kein Bellen, eher ein Schnauben.
Der Hund stand ein Stück entfernt, sein Fell durchnässt, die Pfoten im Schlamm.
Er bewegte sich langsam, aber entschlossen, und kam geradewegs auf sie zu.

Irmgard kniete sich nieder.
Sie legte das Tuch mit dem Heft auf den Stein und sah den Hund an.
Er senkte den Kopf, beschnupperte das Bündel, dann den Stein.
Seine Augen wirkten dunkler im Regen, und doch leuchteten sie, als brenne darin etwas, das nicht vergehen konnte.

Fenja, die heimlich gefolgt war, blieb am Tor stehen.
Sie sah, wie ihre Lehrerin auf den Knien lag, den Schirm achtlos zur Seite gefallen.
Sie sah den Hund, der reglos am Grab verweilte.
Etwas in dieser Szene machte sie still, so still, dass sie nicht wagte zu rufen.

Irmgard erinnerte sich an den Tag, an dem sie Mertens Mutter beistehen musste.
Die Frau hatte in der Küche gesessen, ein Tuch in den Händen, das sie immer wieder knetete.
Keiner fand die richtigen Worte, nicht einmal der Pfarrer.
Nur der Hund hatte damals gewinselt und an der Tür gekratzt, als wisse er, dass niemand allein sein sollte.

Jetzt, acht Jahre später, stand derselbe Hund wieder hier.
Sein Fell tropfte, sein Atem war ruhig.
Irmgard spürte, dass es kein Zufall sein konnte.
Er war gekommen, weil Erinnerung nicht sterben darf.

Fenja wagte sich schließlich näher.
Ihre Schritte platschten durch die Pfützen, und sie hielt den Atem an, als sie den Hund fast berührte.
Doch er bewegte sich nicht.
Er blieb neben dem Grab, als wäre er Teil davon.

Irmgard legte ihre Hand auf Fenjas Schulter.
Manchmal kommen sie zurück, sagte sie leise.
Nicht die Menschen, aber das, was sie uns hinterlassen haben.
Fenja nickte, auch wenn sie nicht alles verstand.
Aber sie fühlte, dass dies ein Moment war, den man nicht vergisst.

Der Regen ließ nach, und zwischen den Wolken zeigte sich ein heller Streifen.
Der Hund hob den Kopf, sah zum Waldrand und setzte sich dann in Bewegung.
Seine Pfoten hinterließen Spuren im nassen Gras, die sich rasch füllten mit Wasser.
Fenja wollte ihm nachlaufen, doch Irmgard hielt sie zurück.
Nicht heute, flüsterte sie.

Am Abend saß Irmgard wieder in ihrer Küche.
Das Heft lag vor ihr, noch feucht vom Regen.
Sie blätterte darin, und an einer Stelle blieb sie hängen.
Da stand: Wenn der Sommer kommt, vergisst man leichter, was fehlt. Aber vielleicht soll man nicht vergessen. Vielleicht soll man erinnern, damit es leichter wird.

Die Worte ließen sie nicht los.
Sie schloss die Augen und sah Mertens Gesicht vor sich, dieses junge, unruhige Lächeln.
Es war, als habe er schon damals gewusst, dass Erinnerung das Einzige ist, das bleibt.

Fenja hingegen konnte kaum schlafen.
Sie lag in ihrem Bett und dachte an den Hund.
Sie fragte sich, ob er jetzt irgendwo im Wald lag, ob er träumte, ob er denselben Traum hatte wie sie.
Einen Traum von einem Jungen, den sie nie gekannt hatte, und doch schien er durch den Hund zu ihr zu sprechen.

Die Nacht war still, nur das Tropfen der Dachrinne erinnerte an den Regen.
Im Dorf schliefen die Menschen, aber über den Bäumen hing ein seltsames Leuchten, als wolle der Sommer sagen, dass er noch Geschichten zu erzählen hatte.

Und als Irmgard im Halbschlaf die Augen wieder öffnete, glaubte sie, eine Silhouette vor ihrem Fenster zu sehen.
Ein Hund, reglos, mit leuchtenden Augen.
Sie blinzelte, und die Gestalt war verschwunden.

Doch sie wusste, dass er da gewesen war.
Denn manche Begegnungen sind keine Träume, sondern Botschaften.

Und sie ahnte, dass der Sommer noch längst nicht alles offenbart hatte.

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