Sommer ohne Leine | Jeden Sommer kehrt ein namenloser Hund zurück und enthüllt ein verborgenes Geheimnis vergangener Jahre

🐾 Teil 5: Die Zeichnung des Sommers

Die Tage nach dem Regen wurden wärmer, als hätte der Sommer zeigen wollen, dass er noch Kraft besaß.
Die Wiesen standen voller Glockenblumen, und am Wegrand flimmerten die Disteln.
Die Kinder liefen wieder hinaus, als wäre nichts geschehen, aber in Fenjas Augen lag eine Spur von Erwartung, die nicht weichen wollte.

Der Hund kam erst am späten Nachmittag.
Er erschien nicht spielend, sondern ernst, fast feierlich.
Seine Schritte waren gemessen, und als er auf den Platz trat, verstummte das Lachen der Kinder für einen Moment.
Sie spürten, dass heute etwas anderes in der Luft lag.

Irmgard saß bereits unter der Linde.
Sie hatte das alte Heft bei sich, diesmal nicht in einem Tuch versteckt.
Ihre Finger lagen fest um den Einband, als müsste sie sich an etwas halten.
Als der Hund näherkam, legte sie das Heft auf ihre Knie und wartete.

Fenja stellte sich neben sie.
Sie wollte fragen, wollte wissen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Der Hund setzte sich vor die beiden und blickte sie abwechselnd an, als wollte er etwas übergeben.
Sein Atem ging ruhig, doch seine Augen waren voller Dringlichkeit.

Irmgard schlug das Heft auf.
Eine Seite war mit einer Zeichnung gefüllt, grob, fast kindlich, aber unverkennbar.
Ein Hund mit einer weißen Pfote und einem dunklen Kopf.
Darunter hatte Merten geschrieben: Er läuft mit, auch wenn keiner ihn ruft.

Fenja schnappte nach Luft.
Das Bild war, als hätte es der Hund selbst gezeichnet.
Sie legte die Hand auf sein Fell, und er zuckte nicht zurück.
Er schloss die Augen, und in diesem Moment war es, als schlösse sich ein Kreis, der lange offenstand.

Irmgard erinnerte sich an jenen Tag.
Merten hatte die Zeichnung nach dem Unterricht angefertigt, während die anderen Kinder längst nach Hause gegangen waren.
Er hatte dabei gelächelt, doch sein Blick war ernst gewesen.
Als hätte er etwas gespürt, das ihm niemand erklären konnte.

Der Hund legte sich nun neben Irmgards Füße.
Sein Körper war warm, und sie fühlte sich plötzlich nicht mehr so allein wie sonst.
Sie streichelte sein Fell, während die Kinder in ein vorsichtiges Spiel zurückfanden, leiser als gewöhnlich.
Es war, als hätte der Hund ihnen beigebracht, dass Freude auch still sein darf.

Am Abend nahm Irmgard das Heft mit in ihre Stube.
Sie schlug es wieder auf und las weiter.
Zwischen den hastigen Zeilen fand sie einen Satz, der sie erschütterte: Wenn ich gehe, wird er bleiben. Er weiß den Weg, den ich nicht mehr finde.
Irmgards Hände zitterten, und sie musste das Buch ablegen.
Die Worte waren wie ein Echo, das erst jetzt zu ihr durchdrang.

Fenja konnte in dieser Nacht kaum schlafen.
Sie dachte an den Hund, an die Zeichnung, an die Worte im Heft.
Sie hatte das Gefühl, dass sie Teil einer Geschichte war, die älter war als sie selbst.
Eine Geschichte, die sie mit jedem Atemzug tiefer hineinzog.

Am nächsten Tag versammelten sich die Kinder wieder auf dem Platz.
Diesmal brachte Fenja ein rotes Band mit, das sie dem Hund um den Hals legen wollte.
Sie hatte das Gefühl, ihm etwas schenken zu müssen, so wie er ihnen seine Gegenwart schenkte.
Als er erschien, lief sie ihm entgegen und knüpfte vorsichtig die Schleife.
Der Hund ließ es geschehen, und für einen Augenblick sah er aus, als trüge er eine Auszeichnung.

Irmgard stand am Rand und sah zu.
Ihr Herz wurde schwer und leicht zugleich.
Schwer, weil die Erinnerung sie drückte, leicht, weil sie wusste, dass der Sommer ihr eine zweite Chance gab, die Wahrheit zu sehen.
Der Hund war kein Zufall.
Er war eine Brücke.

Als die Sonne tiefer sank, zog der Hund sich zurück.
Er trottete langsam in Richtung des Waldes, blieb aber einmal stehen, drehte den Kopf und wartete.
Fenja wollte zu ihm, doch Irmgard hielt sie zurück.
Noch nicht, sagte sie leise. Noch nicht.

In dieser Nacht träumte Irmgard von Merten.
Er saß auf der Bank vor der Schule, das Heft auf den Knien, und lächelte sie an.
Der Hund lag neben ihm, genau wie heute.
Als sie näherkam, hob Merten den Kopf und sagte: Er bringt dich dahin, wo ich geblieben bin.
Dann verschwand er, und nur der Hund blieb zurück.

Irmgard erwachte mit Tränen in den Augen.
Sie wusste, dass der Sommer ihr noch etwas zeigen wollte.
Etwas, das sie noch nicht verstanden hatte, etwas, das mit dem Hund, dem Heft und der Erinnerung verbunden war.

Der nächste Tag begann still.
Die Kinder spielten wieder, aber ihre Stimmen klangen gedämpft.
Sie warteten auf den Hund, und als er kam, wussten sie, dass etwas Größeres begonnen hatte.

Irmgard legte das Heft auf die Bank, schlug die letzte Seite auf und sah, was sie bisher nicht bemerkt hatte.
Zwischen den Worten hatte Merten eine Linie gezogen, krumm und zittrig, aber bestimmt.
Sie führte von einem gezeichneten Bach zu einem kleinen Kreuz.
Darunter stand nur ein Wort: Warten.

Irmgard spürte, wie ihr Atem stockte.
Sie sah den Hund an, und er sah zurück.
Es war, als bestätige er, was sie gerade entdeckt hatte.

Etwas wartete noch.
Etwas, das der Sommer ans Licht bringen wollte.

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