Sommer ohne Leine | Jeden Sommer kehrt ein namenloser Hund zurück und enthüllt ein verborgenes Geheimnis vergangener Jahre

🐾 Teil 6: Die verrostete Dose

Der Sommermorgen war hell und klar.
Der Regen hatte die Luft gewaschen, und über den Hügeln hing ein Blau, das fast durchsichtig wirkte.
Fenja rannte barfuß über den Platz, das Gras noch feucht vom Tau, und hielt Ausschau nach dem Hund.

Doch diesmal kam er nicht sofort.
Die Kinder warteten länger als sonst, sie warfen den Ball hin und her, ohne rechte Freude.
Kjell setzte sich schließlich auf die Stufen der Schule und meinte, vielleicht habe er den Weg vergessen.
Fenja widersprach heftig.
Er vergesse nie, sagte sie, er kennt alles.

Irmgard trat aus ihrer Tür und hielt das alte Heft an die Brust gedrückt.
Sie hatte die Nacht wieder darin gelesen, und der Gedanke an die gezeichnete Linie ließ sie nicht los.
Ein Bach, ein Kreuz, und darunter das Wort Warten.
Es war mehr als eine Kinderei gewesen, das spürte sie jetzt mit jeder Faser.

Als sie den Platz betrat, stand der Hund plötzlich am Waldrand.
So still, dass niemand bemerkt hatte, wann er gekommen war.
Er bewegte sich langsam, zielstrebig, nicht zum Brunnen und nicht zur Linde, sondern direkt auf Irmgard zu.

Die Kinder hielten inne.
Fenja starrte ihn an, als habe er sie vergessen.
Doch der Hund blieb vor Irmgard stehen, und in seinen Augen lag etwas, das sie erschütterte.
Sie hatte das Gefühl, er wolle ihr zeigen, dass nun der Zeitpunkt gekommen war.

Am Nachmittag brach Irmgard auf.
Sie nahm das Heft, wickelte es in ein Tuch und folgte dem Pfad zum Bach.
Fenja ließ sich nicht zurückhalten, sie lief an ihrer Seite, barfüßig und entschlossen.
Hinter ihnen stapfte Kjell, der neugierig war, aber nichts sagte.

Der Hund führte den Weg.
Er lief voraus, blieb stehen, wartete, drehte sich um.
Er kannte jeden Stein, jede Wurzel, als sei er den Pfad schon hundert Mal gegangen.
Das Wasser rauschte leise, und die Luft roch nach Farn.

Schließlich erreichten sie die Stelle, an der der Bach sich teilte und ein kleiner Seitenarm zwischen Felsen verlief.
Dort blieb der Hund stehen.
Er setzte sich nieder, hob die Nase und blickte genau dorthin, wo das Wasser eine kleine Mulde ausgespült hatte.

Irmgard zögerte.
Ihre Hände zitterten, als sie das Heft öffnete und die Seite mit der Zeichnung betrachtete.
Die Linie führte genau hierher, an diesen Ort, der wie vergessen im Wald lag.
Sie trat näher, kniete sich nieder und tastete im feuchten Moos.

Fenja beugte sich neben sie.
Zwischen den Steinen steckte etwas Helles, fast verborgen vom Erdreich.
Irmgard griff danach, zog vorsichtig, und eine kleine Blechdose kam zum Vorschein, verrostet und vom Wasser gezeichnet.

Sie hielt den Atem an.
Ihre Finger waren feucht, das Herz schlug wie ein Trommelwirbel.
Mit Mühe öffnete sie den Deckel, und darin lag ein Stück Papier, zusammengefaltet, vom Rost braun verfärbt.
Sie entfaltete es, so behutsam, als hielte sie Leben in den Händen.

Die Schrift war verblasst, doch lesbar.
Merten hatte geschrieben: Wer dies findet, soll wissen, dass Freundschaft bleibt, auch wenn man geht.
Darunter stand ein zweiter Satz: Vergiss den Hund nicht. Er trägt, was ich nicht mehr tragen kann.

Irmgards Augen füllten sich mit Tränen.
Fenja starrte auf die Worte, ohne sie ganz zu begreifen, aber sie spürte die Schwere und den Trost zugleich.
Kjell trat näher und schwieg, was selten genug war für ihn.
Der Hund legte seine Pfote auf Irmgards Knie, als wolle er sagen, dass die Botschaft angekommen sei.

Sie saßen lange an diesem Bach.
Das Rauschen klang wie ein Lied, und das Licht brach sich in den Tropfen auf den Blättern.
Irmgard fühlte, wie die Last der Jahre leichter wurde, als ob Mertens Stimme wieder in ihr lebte.
Der Hund legte sich schließlich nieder, die Augen halb geschlossen, als sei seine Aufgabe für diesen Tag erfüllt.

Auf dem Rückweg sprach niemand.
Die Kinder liefen schweigend, Irmgard trug die Dose in beiden Händen, und der Hund schritt an ihrer Seite, stolz und gelassen.
Es war, als begleite er nicht sie, sondern den Jungen, der in den Worten weiterlebte.

Als sie das Dorf erreichten, war die Sonne schon tief.
Die Dächer glühten rot, und aus den Schornsteinen stieg erster Rauch.
Fenja nahm Irmgards Hand, als hätte sie Angst, dass die Worte im Wind verwehen könnten.
Doch Irmgard wusste, dass sie nun nicht mehr verschwinden würden.

Später am Abend saß sie auf der Veranda.
Der Hund lag zu ihren Füßen, die Kinder waren längst zu Hause.
Sie öffnete die Dose noch einmal, las die Zeilen im Licht der Lampe und strich mit den Fingern über die Schrift, als könnte sie den Jungen zurückholen.
Und für einen Moment war es, als säße er wirklich neben ihr, lachend, lebendig, voller Zukunft.

Der Hund hob den Kopf, als spürte er denselben Gedanken.
Sein Blick war weit und ruhig.
Dann senkte er den Kopf wieder, und Irmgard wusste, dass er nicht für immer bleiben konnte.
Aber solange er kam, würde auch Mertens Stimme bleiben.

In der Stille der Nacht hörte sie den Bach rauschen, obwohl er weit entfernt lag.
Es war, als habe er einen Weg in ihr gefunden.
Und sie wusste, dass der Sommer noch ein weiteres Geheimnis bereithielt.

Denn Erinnerung endet nicht an einem Bach und nicht an einem Grab.
Sie wandert weiter, wie ein Hund, der Jahr für Jahr zurückkehrt.

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