🐾 Teil 8: Der Ranzen im Wald
Der nächste Morgen war voller Glanz.
Die Sonne stieg über den Rand des Hunsrücks, und das Tal lag offen, als wolle es den Menschen etwas preisgeben.
Fenja erwachte früh, noch ehe ihre Mutter sie rufen konnte.
Sie zog sich an, schnürte die Schuhe und stand schon an der Tür, als wüsste sie, dass heute etwas geschehen würde.
Irmgard Kappel hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan.
Die Worte im Heft, die sie am Abend gelesen hatte, brannten in ihrem Kopf.
Hör auf ihn, er weiß, wo wir uns treffen.
Sie wusste, dass es kein Zufall war, dass der Hund gerade diese Seite berührt hatte.
Es war ein Zeichen, und sie konnte es nicht länger verdrängen.
Am späten Vormittag trafen sich Irmgard und Fenja am Platz.
Die Kinder spielten schon wieder, aber leiser, mit Blicken zum Waldrand.
Der Hund erschien, fast lautlos, wie ein Schatten aus Licht.
Er lief nicht zu den Kindern, sondern direkt auf Irmgard und Fenja zu.
Dann blieb er stehen, drehte sich um und wartete.
Fenja griff nach Irmgards Hand.
Sie wusste, was das bedeutete.
Heute war der Tag, an dem sie ihm folgen mussten.
Irmgard nickte langsam, und ohne ein Wort verließen sie den Platz, Schritt für Schritt hinter dem Hund her.
Der Weg führte sie tiefer in den Wald als je zuvor.
Die Luft war kühl und roch nach Harz und feuchtem Laub.
Das Rauschen des Baches begleitete sie, manchmal laut, manchmal leise, wie eine Stimme, die den Weg kannte.
Der Hund lief voraus, immer in gleichmäßigem Tempo, nie zu schnell, nie zu langsam.
Fenja spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
Sie war aufgeregt, aber nicht ängstlich.
Es fühlte sich an, als würde sie eine Schwelle überschreiten, die längst auf sie gewartet hatte.
Irmgard hingegen spürte die Last der Erinnerung, die mit jedem Schritt schwerer wurde.
Sie ahnte, dass der Hund sie nicht zu einem Spielplatz führte, sondern zu einem Ort, an dem Wahrheit wohnte.
Schließlich blieb der Hund an einer Lichtung stehen.
Die Sonne fiel in schrägen Strahlen durch das Blätterdach und ließ den Boden schimmern.
In der Mitte stand ein verfallener Holzpfosten, überwuchert von Efeu.
Daneben lag ein alter, zerbrochener Ranzen, halb im Moos versunken.
Irmgard erstarrte.
Sie erkannte den Ranzen sofort.
Er gehörte Merten.
Sie hatte ihn nach dem Unglück nie wiedergesehen, niemand hatte ihn gefunden.
Jetzt lag er hier, als hätte er all die Jahre auf diesen Moment gewartet.
Fenja beugte sich vorsichtig hinunter.
Das Leder war brüchig, die Schnallen verrostet.
Sie hob den Deckel an, und darin lag ein Bündel feuchter, zerknitterter Papiere.
Auf dem obersten stand in krakeliger Schrift: Für später.
Irmgard nahm das Bündel mit zitternden Händen.
Sie setzte sich auf einen umgestürzten Stamm, der Hund legte sich neben ihre Füße.
Langsam entfaltete sie die Blätter.
Es waren keine Aufgaben, keine Notizen, sondern Gedanken, wie ein Tagebuch.
Merten hatte geschrieben: Manchmal habe ich Angst, dass mich niemand versteht. Aber wenn er bei mir ist, fühle ich mich nicht mehr allein.
Weiter unten stand: Wenn etwas passiert, dann soll man wissen, dass ich nicht traurig war. Ich habe gewusst, dass er bei mir bleibt.
Irmgard weinte leise.
Die Worte schnitten tief, und doch gaben sie Trost.
Fenja legte die Hand auf ihre Schulter, ohne etwas zu sagen.
Sie wusste, dass Tränen hier nicht nur Schmerz waren, sondern auch Befreiung.
Der Hund hob den Kopf, als wolle er prüfen, ob sie verstanden hatte.
Sein Blick war ernst, und für einen Augenblick schien es, als sehe Mertens Seele durch ihn hindurch.
Dann legte er die Pfote auf den Ranzen, so sanft, dass es wie eine Segnung wirkte.
Sie saßen lange auf dieser Lichtung.
Die Zeit verlor ihr Gewicht, und nur das Summen der Insekten und das Rauschen der Bäume blieb.
Irmgard las noch ein paar Zeilen, Worte voller Sehnsucht, aber auch voller Hoffnung.
Und sie wusste, dass Merten ihr durch den Hund etwas hinterlassen hatte, das kein Jahr zerstören konnte.
Als die Sonne sank, erhob sich der Hund.
Er ging einige Schritte zum Rand der Lichtung, blieb stehen und sah zurück.
Es war, als fordere er sie auf, den Ranzen mitzunehmen.
Irmgard tat es, so schwer er auch war, nicht wegen seines Gewichts, sondern wegen der Erinnerung.
Auf dem Rückweg sprach niemand.
Fenja hielt Irmgards Hand, der Hund lief voraus, und der Bach rauschte ihnen nach.
Im Dorf angekommen, blieb der Hund am Waldrand stehen.
Er wartete einen Moment, dann verschwand er lautlos zwischen den Bäumen.
Irmgard wusste, dass er wiederkommen würde.
Aber sie spürte auch, dass die Begegnungen seltener werden könnten.
Der Hund hatte ihnen etwas gezeigt, und nun lag es an ihnen, damit zu leben.
In dieser Nacht legte sie den Ranzen neben ihr Bett.
Sie strich über das alte Leder, das noch immer Mertens Handschrift trug.
Und sie fühlte, dass der Sommer ihr ein Stück Zukunft zurückgegeben hatte, das längst verloren schien.
Doch gleichzeitig ahnte sie, dass noch etwas fehlte.
Der Hund hatte sie nicht nur an diesen Ort geführt, um ihr die Schrift zu zeigen.
Er wollte mehr.
Etwas wartete noch, etwas, das tiefer verborgen lag.
Und während die Nacht das Dorf umhüllte, wusste Irmgard, dass der Sommer ihr den schwersten Schritt noch bevorhielt.