Sommer ohne Leine | Jeden Sommer kehrt ein namenloser Hund zurück und enthüllt ein verborgenes Geheimnis vergangener Jahre

🐾 Teil 9: Der letzte Ort

Die folgenden Tage lagen schwer über Börfink.
Die Sonne brannte noch immer über den Hügeln, doch die Luft war drückend, als hielte sie etwas zurück.
Fenja spielte kaum noch, sie saß oft neben Irmgard auf der Veranda, während der Ranzen mit den Papieren neben ihnen lag.
Das Dorf hatte davon erfahren, doch niemand fragte laut.
Die Leute wussten, dass es Dinge gab, die man nicht mit schnellen Worten anfassen konnte.

Irmgard blätterte jeden Abend in den zerknitterten Blättern.
Sie las Sätze, die Mertens Stimme zurückholten, so lebendig, dass sie manchmal meinte, er stünde in der Tür.
Und doch wuchs in ihr eine Unruhe.
Der Hund hatte sie an den Bach geführt, hatte den Ranzen ans Licht gebracht.
Aber sie fühlte, dass dies nicht das Ende war.
Etwas fehlte noch, eine letzte Wahrheit, die er ihnen zeigen wollte.

Fenja fragte eines Abends:
Oma Kappel, warum erzählst du nicht allen, was in den Blättern steht.
Irmgard schwieg lange.
Weil Erinnerungen verletzen können, sagte sie schließlich.
Manche Wunden ruhen still, bis jemand sie wieder aufreißt.
Fenja schüttelte den Kopf.
Aber wenn man sie nicht zeigt, heilen sie nie.

In dieser Nacht konnte Irmgard nicht schlafen.
Sie hörte das Rauschen des Baches, obwohl er weit entfernt lag, und sie sah immer wieder die Augen des Hundes vor sich.
Sie wusste, dass Fenja recht hatte.
Die Erinnerung gehörte nicht ihr allein.
Sie gehörte zum Dorf, zu den Kindern, zu allen, die Merten gekannt hatten.

Am nächsten Morgen war das Dorf stiller als sonst.
Es war Sonntag, die Glocke von Heiligenbösch schlug zum Gottesdienst.
Die Leute versammelten sich, manche aus Gewohnheit, manche aus Glauben, manche einfach, weil der Sonntag sonst zu lang war.
Irmgard nahm das Heft und den Ranzen mit.
Fenja ging an ihrer Seite, und der Hund wartete bereits am Kirchhof, still, mit gesenktem Kopf.

Die Menschen rückten zur Seite, als sie eintraten.
Niemand fragte, warum sie den Ranzen trug.
Sie setzte sich in die erste Reihe, legte das alte Leder vor sich, und während der Pfarrer sprach, hörte sie kaum zu.
Ihr Herz pochte, als müsse es entscheiden, ob sie schweigen oder reden würde.

Nach dem Gottesdienst blieben die Leute stehen, wie sie es immer taten.
Es wurde leiser gesprochen, als die Kinder erzählten, dass der Hund wieder am Kirchhof gewartet hatte.
Irmgard trat nach vorn, hob das Heft in die Höhe und begann zu sprechen.
Ihre Stimme war fest, auch wenn sie bebte.

Sie erzählte von Merten.
Von seiner Unruhe, seinem Lachen, seinen Träumen.
Sie las Sätze vor, die er geschrieben hatte, Worte, die kein Kind leichtfertig zu Papier brachte.
Manche senkten die Köpfe, andere wischten sich verstohlen über die Augen.
Als sie die Zeilen über den Hund vorlas, blickte die ganze Gemeinde hinaus, wo er im Schatten der Eiche saß, ruhig, als wüsste er, dass er gemeint war.

Keiner lachte.
Keiner zweifelte.
Es war, als hätten alle gespürt, dass dieser Sommer anders war.

Am Abend ging Irmgard noch einmal allein zum Platz.
Der Hund kam zu ihr, setzte sich und legte die Stirn an ihr Bein.
Sie legte die Hand auf seinen Kopf.
Danke, flüsterte sie.
Doch der Hund hob den Blick, und sie verstand, dass noch ein Schritt fehlte.

In der nächsten Nacht hatte sie einen Traum.
Sie sah Merten am Bach sitzen, die Füße im Wasser, das Heft auf den Knien.
Der Hund lag neben ihm.
Er lächelte sie an, traurig und froh zugleich.
Dann zeigte er mit dem Finger hinter sich, dorthin, wo der Wald dunkler wurde.
Komm, sagte er.
Und dann war der Traum vorbei.

Am Morgen erzählte sie Fenja davon.
Das Mädchen drängte sofort: Wir müssen gehen.
Irmgard nickte.
Sie fühlte, dass die Zeit gekommen war, dem Hund weiter zu folgen.

Am Nachmittag standen sie wieder am Waldrand.
Der Hund wartete bereits.
Diesmal liefen mehr Kinder mit, und auch einige Erwachsene blieben nicht zurück.
Herr Brenner war dabei, seine Frau, zwei Nachbarn.
Es war, als hätte das ganze Dorf gespürt, dass der Weg nicht nur für Irmgard bestimmt war.

Der Hund führte sie tiefer in den Wald als je zuvor.
Der Pfad war schmal, und das Licht fiel nur spärlich durch die Bäume.
Das Rauschen des Baches klang wie ein ferner Gesang.
Sie gingen lange, bis der Wald sich plötzlich öffnete.

Vor ihnen lag eine kleine Senke, überwuchert von Moos und Farn.
In der Mitte stand ein alter Baumstumpf, und daneben lag etwas im Gras, halb vergraben, halb freigelegt.
Irmgard trat vor, beugte sich nieder und erkannte ein Paar Schuhe.
Kinderschuhe, längst zerfallen, aber unverkennbar.

Sie schlug die Hand vor den Mund.
Ein Raunen ging durch die Gruppe.
Der Hund setzte sich neben die Schuhe, hob den Kopf und heulte leise, ein Ton, der durch den Wald ging wie ein Gebet.

Irmgard sank auf die Knie.
Sie wusste, dass sie gefunden hatten, was all die Jahre verborgen geblieben war.
Nicht nur den Ranzen, nicht nur die Worte, sondern den Ort, an dem Merten zuletzt gewesen war.

Der Hund legte die Pfote auf die Erde, und alle verstummten.
Selbst die Kinder begriffen, dass sie an einem Ort standen, der mehr war als Wald und Gras.
Es war ein Ort, an dem Erinnerung Fleisch geworden war.

Die Sonne sank langsam, und das Licht legte sich golden über die Senke.
Der Hund blieb reglos, als wache er über das, was sie nun wussten.
Irmgard weinte, doch ihre Tränen waren nicht nur Schmerz.
Sie waren auch Dankbarkeit.

Denn der Sommer hatte ihnen nicht nur den Hund geschickt.
Er hatte ihnen gezeigt, dass Treue stärker ist als Zeit.

Und Irmgard wusste, dass nun nur noch ein letzter Schritt fehlte.

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