🐾 Teil 10: Der Sommer bleibt
Das Dorf schwieg nach jenem Tag im Wald.
Niemand sprach viel über die Schuhe, niemand wagte es, den Ort laut zu benennen.
Aber in allen Gesichtern lag eine neue Ernsthaftigkeit, ein Wissen, das sie verband.
Manchmal reichte ein Blick zwischen den Nachbarn, und man wusste, dass jeder denselben Gedanken hatte: Der Sommer hatte ihnen etwas zurückgegeben, was lange verborgen war.
Irmgard saß oft auf ihrer Veranda.
Der Ranzen stand neben dem alten Stuhl, und die Blätter lagen darin wie ein Herz, das wieder schlägt.
Sie las nicht jeden Tag, aber sie brauchte nur den Deckel zu öffnen, und schon war es, als säße Merten neben ihr.
Fenja kam fast täglich vorbei.
Sie setzte sich zu ihr, manchmal mit Fragen, manchmal schweigend.
Es war, als hätte das Mädchen verstanden, dass Erinnerung nicht nur in Worten, sondern auch in Stille lebt.
Der Hund erschien in den Tagen danach seltener.
Manchmal sahen sie ihn am Waldrand, manchmal mitten auf dem Platz, aber er blieb nie lange.
Es war, als ziehe er sich zurück, jetzt, da seine Aufgabe fast erfüllt war.
Und jedes Mal, wenn er ging, hatte Irmgard das Gefühl, dass sein Blick ein Abschied war.
Eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang, versammelte sich das Dorf.
Es war nicht geplant, doch einer nach dem anderen kam zum Platz unter der Linde.
Die Kinder trugen ihre Bälle, die Erwachsenen brachten Bänke und Stühle, und jemand stellte einen Krug Wasser auf den Brunnenrand.
Es war, als hätte eine unsichtbare Hand sie gerufen.
Irmgard brachte den Ranzen mit.
Sie legte ihn auf die Bank, schlug das Heft auf und begann vorzulesen.
Ihre Stimme war ruhig, doch jeder Satz trug die Kraft der Jahre.
Sie las von Mertens Träumen, seinen Ängsten, seinem Glauben an die Freundschaft, die stärker war als der Tod.
Und während sie sprach, senkten sich die Köpfe der Zuhörer.
Dann trat der Hund aus dem Schatten der Bäume.
Die Kinder riefen, doch sie wurden leise, als sie merkten, dass dies kein gewöhnlicher Moment war.
Der Hund kam langsam, setzte sich vor die Bank, und für einen Augenblick war es, als lauschte er selbst den Worten.
Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten im Abendlicht, und in ihrer Tiefe lag etwas, das kein Mensch ganz deuten konnte.
Als Irmgard die letzte Seite schloss, stand eine Stille über dem Platz, die schwer und leicht zugleich war.
Man hörte nur den Wind in den Blättern.
Der Hund erhob sich, trat einen Schritt näher und legte seine Stirn gegen den Ranzen.
Dann drehte er sich um und ging in Richtung Wald.
Diesmal blieb er nicht stehen, diesmal sah er sich nicht um.
Fenja wollte aufspringen, ihm nachlaufen, doch Irmgard legte ihr die Hand auf den Arm.
Lass ihn, flüsterte sie.
Er hat getan, was er musste.
Fenja kämpfte mit den Tränen, aber sie nickte.
In diesem Moment verstand sie, dass Liebe manchmal darin besteht, gehen zu lassen.
Die Sonne sank tiefer, und das Licht legte sich golden auf die Gesichter der Menschen.
Sie blieben noch lange sitzen, erzählten von früher, lachten leise, weinten auch.
Es war kein Abschiedsfest, sondern ein stilles Bekenntnis, dass Erinnerung nicht vergeht, solange sie geteilt wird.
In der Nacht träumte Irmgard wieder von Merten.
Er saß auf der Bank unter der Linde, den Hund an seiner Seite.
Er lächelte, ohne Worte, doch sie wusste, dass er dankbar war.
Als sie erwachte, lag Frieden in ihrem Herzen, ein Frieden, den sie viele Jahre nicht gekannt hatte.
Die Tage wurden kürzer, der Sommer begann zu sinken.
Die Kinder spielten weiter, aber jedes Mal, wenn ein Hund bellte, hoben sie die Köpfe und schauten zum Wald.
Doch der sandfarbene Rüde kehrte nicht mehr zurück.
Er blieb im Herzen des Dorfes, in den Worten, im Ranzen, in den Blicken derer, die ihn gesehen hatten.
Eines Abends, als der Herbst schon in der Luft lag, setzte sich Irmgard auf ihre Veranda.
Fenja kam dazu, legte den Kopf an ihre Schulter.
Sie sahen in die Dämmerung, und beide dachten an denselben Hund, an denselben Jungen, an denselben Sommer.
Irmgard flüsterte: Manche Hunde gehören niemandem und trotzdem allen.
Fenja nickte, und sie hielt die Hand der Alten fest.
Die Glocke von Heiligenbösch schlug, und der Wind strich durch die Bäume.
Es war, als flüstere er eine Antwort, leise, aber klar.
Und Irmgard wusste, dass der Sommer ohne Leine nie vergehen würde.
Denn solange jemand sich erinnert, kommt er zurück.
Jahr für Jahr, Schritt für Schritt, Pfote für Pfote.
Und in diesem Wissen schloss sie die Augen, während die Nacht das Dorf umarmte.