Sterbenskranker Junge engagiert alte Feuerwehrmänner mit seinen letzten 20 Euro und verändert eine ganze Stadt

Der ehemalige Feuerwehrmann nahm den zerknitterten Zwanzig-Euro-Schein aus der knochigen Hand des zehnjährigen Jungen und versuchte, nicht zu weinen.

„Ich muss Sie mieten“, keuchte der Junge durch seine Sauerstoffmaske an der Tankstelle. „Alle zusammen.“

Er zeigte mit dem Arm, an dem noch ein Zugang steckte, auf unsere Gruppe von Männern in alten Einsatzjacken. Zwölf ehemalige Feuerwehrleute, alle längst in Rente, alle auf ihren Motorrädern oder in alten Kombis unterwegs.

„Für meine Beerdigung“, sagte er. „Die ist nächste Woche.“

Ich hatte in meinem Leben viele kranke Kinder gesehen. Ich war 40 Jahre Berufsfeuerwehrmann gewesen, hatte Unfälle, Brände, Katastrophen erlebt. Aber so etwas wie diesen Jungen hatte ich noch nie gesehen.

Vielleicht fünfundsechzig Kilo mit allem drum und dran. Glatze von der Chemo. Krankenhaushemd über Pyjamahose mit kleinen Fußballen drauf. Und er war tatsächlich selbst gefahren.

„Bin mit Mamas Auto gekommen“, sagte er leise. „Sie denkt, ich bin auf der Station.“

Der Wagen stand schief an der Zapfsäule, Motor noch an.

„Ich hab nicht viel Zeit“, sagte er. „Bevor jemand merkt, dass ich weg bin.“

Seine Augen waren riesig in dem eingefallenen Gesicht.

„Die aus meiner Klasse werden kommen“, flüsterte er. „Zur Beerdigung. Tun so, als wären sie meine Freunde gewesen. Machen Fotos von meinem Sarg. Schreiben, wie furchtbar traurig das alles ist.“

Seine kleine Hand ballte sich zur Faust.

„Sie haben mich ‚Tumor-Leo‘ genannt. Haben bellende Geräusche gemacht, als mir die Haare ausfielen. Gesagt, ich sehe aus wie eine nackte Ratte.“

Er holte mühsam Luft.

„Und jetzt werden sie meinen Tod benutzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Er streckte mir den Zwanzig-Euro-Schein erneut hin. „Bitte. Einfach Motor aufheulen lassen, wenn sie sprechen. So lange, bis sie weglaufen. Bis sie endlich mal merken, wie Angst sich anfühlt.“

Ich heiße Karl „Kalle“ Ritter. 67 Jahre alt. Rücken kaputt, Knie kaputt, aber das Herz schlägt noch. Ich war mein halbes Leben bei der Berufsfeuerwehr in einer mittleren Stadt in Süddeutschland. Wir, die Männer an dieser Tankstelle, sind ein kleiner Verein: „Alte Kameraden“. Ehemalige Feuerwehrleute, Sanitäter, ein paar Polizisten.

Wir waren auf dem Rückweg von einer Beerdigung. Zwölf von uns. Schon wieder ein Kamerad, der den Kampf gegen den Krebs verloren hatte. In letzter Zeit fuhren wir fast nur noch zu Beerdigungen.

Der silberne Kleinwagen zog schief auf den Hof. Fahrertür auf, und dieser kleine Junge fiel fast heraus, eine Infusionsstange hinter sich herziehend.

„Heilige…“, murmelte Rudi, der früher Gruppenführer war.

„Hilf ihm!“, sagte ich und lief los.

Aber der Junge hob die Hand.
„Ich bin nicht hier, um Hilfe zu holen“, sagte er. „Ich bin hier, um etwas zu regeln.“

Aus der Nähe sah er noch schlechter aus. Graue Haut, dunkle Schatten unter den Augen, Wangen eingefallen. Aber die Augen – die brannten. Ich kannte diesen Blick aus Einsätzen. Das war kein Blick von jemandem, der aufgibt. Das war der Blick eines Menschen mit einem Auftrag.

„Junge, wir müssen dich zurück ins Krankenhaus bringen“, sagte ich.

„Nachher“, flüsterte er. „Erst machen wir einen Vertrag.“

Er wedelte mit dem Zwanziger.

„Ich hab das mit Nachhilfe im Internet verdient. Für ältere Schüler Hausaufgaben gemacht. Das ist alles, was ich habe. Aber ich brauche euch.“

„Wie heißt du überhaupt?“, fragte ich.

„Leo“, sagte er. „Leo König. Zehn Jahre. Und ich sterbe.“

Er sagte es, als würde er sein Alter und seine Schuhgröße aufzählen.

„Die Ärzte sagen, der Tumor ist überall“, fuhr er fort. „In den Knochen, im Bauch, in der Lunge. Sie reden von ‚nur noch wenige Tage‘. Sie denken, ich schlafe, aber ich höre alles.“

Neben mir zog einer der Jungs sein Handy. „Ich ruf den Rettungswagen“, murmelte er.

„Bitte nicht“, sagte Leo und sah ihn mit einer Ernsthaftigkeit an, die nicht zu einem Kind passte. „Ich fahr zurück. Ich verspreche es. Aber erst müsst ihr mir zuhören. Nur fünf Minuten.“

Etwas in seiner Stimme ließ uns schweigen.

„In meiner Klasse gibt es drei“, begann er. „Lena, Kevin und Marco. Die haben aus meiner Krankheit ein Spiel gemacht.“

Er hustete, hielt sich die Brust. Kleine rote Punkte auf seiner Hand.

„Sie haben heimlich gefilmt, als ich im Unterricht einen Anfall hatte“, flüsterte er. „Haben das auf einer Kurzvideo-App hochgeladen. Mit lustiger Musik drunter. Haben den Leuten gesagt, sie sollen abstimmen, ob ich noch dieses Schuljahr sterbe.“

Rudi fluchte leise.

„Sie nennen mich ‚Zombie‘ und ‚Glühbirne‘“, sagte Leo. „Haben einen Tippzettel gemacht, wann ich wohl sterbe. Die Mutter von Kevin hat sogar gelacht. Hab ich gehört.“

Ich merkte, wie sich meine Kiefermuskeln anspannten. Ich hatte in brennenden Häusern Menschen schreien gehört, ich hatte Unfälle gesehen, die man niemandem wünscht. Aber das hier, das war eine andere Art Grausamkeit.

„Letzte Woche haben sie gesagt, sie kommen zur Beerdigung“, fuhr Leo fort. „‚Für die Fotos‘, hat Lena gesagt. Damit sie ein trauriges Selfie posten kann. In dem Kleid, das sie schon zur Geburtstagsparty von ihrem Hund anhatte. ‚Mehr bist du eh nicht wert‘, hat sie gesagt.“

„Wo sind deine Eltern, Leo?“, fragte ich.

„Mama ist im Krankenhaus. Auf der Station“, sagte er. „Sie schläft dort auf einem Stuhl neben meinem Bett. Papa ist weg. Als ich krank wurde, konnte er ‚das alles nicht ertragen‘ und ist zu einer anderen Familie gezogen. Aber das ist nicht wichtig.“

Er atmete schwer durch die Maske.

„Wichtig ist die Beerdigung“, sagte er. „Ich weiß ziemlich genau, wann es soweit ist. Die Ärzte sagen, vielleicht zehn Tage. Vielleicht weniger. Ich merke selber, wie verschlissen alles ist. In meinem Bauch, in meiner Brust. Ich spüre, wie der Körper aufgibt.“

Er blickte mich direkt an.

„Ich will nicht, dass die drei dort so tun, als wären sie traurig“, sagte er. „Ich will nicht, dass sie neben meinem Sarg stehen und Geschichten erfinden, wie nett sie zu mir waren. Ich will nicht, dass sie neben meiner Mama stehen.“

Er übergab mir den Schein. Seine Hand zitterte.

„Deshalb will ich euch engagieren“, sagte er. „Kommt mit euren Motorrädern. Stellt euch vor die Kapelle. Und wenn die drei den Mund aufmachen, lasst die Motoren aufheulen. Schaut böse. Macht ihnen Angst. Nur einmal sollen sie so klein und hilflos sein, wie sie mich in der Schule gefühlt haben.“

Ich schluckte.

Die anderen sahen mich an. Ich war der Älteste, der mit der meisten Erfahrung, der, den sie reflexartig ansahen, wenn eine Entscheidung anstand.

„Leo“, sagte ich leise. „Rache bringt dir nichts.“

„Es ist keine Rache“, sagte er. „Es ist Gerechtigkeit. Oder wenigstens fühlt es sich so an.“

Zum ersten Mal brach seine Stimme. Tränen liefen über seine Wangen, rutschten unter die Maske.

„Sie haben mich kaputtgemacht“, flüsterte er. „Die Schule war schlimmer als die Chemo. Ich wusste, wenn die Infusion vorbei ist, muss ich zu ihnen zurück. Sie haben gewonnen. Aber ich will nicht, dass sie auch noch meinen Tod gewinnen.“

Rudi ging in die Hocke. Drei Zentner Mann, tätowierte Unterarme, grauer Stoppelbart. Früher hätte allein sein Anblick manchen Rowdy beruhigt. Jetzt sah er Leo einfach nur an.

„Wie heißt deine Mutter mit Vornamen?“, fragte er ruhig.

„Sabine“, sagte Leo.

„Und die drei aus deiner Klasse? Vollständige Namen.“

„Lena Fuchs. Kevin Albers. Marco Lenz“, sagte Leo ohne zu zögern.

Rudi sah zu mir. Ich wusste, was er dachte: Wir konnten diesen Jungen nicht einfach wegschicken.

Ich legte Leo die Hand auf die Schulter.

„Behalte dein Geld, Leo“, sagte ich. „Wir nehmen kein Geld von Kindern.“

„Aber dann…“

„Wir kommen trotzdem“, sagte ich. „Zur Beerdigung. Das verspreche ich dir. Aber wir kommen nicht, um Kinder zu jagen. Das sind nicht unsere Methoden.“

Leos Gesicht fiel sichtbar zusammen.

„Ich will nicht, dass jemand sie verletzt“, sagte er schnell. „Ich will nur, dass sie nicht so tun, als wären sie gute Menschen.“

„Glaub mir“, sagte ich. „Wir finden eine bessere Lösung.“

Der Rettungswagen kam wenig später. Die Tankstellenpächterin musste wohl den Notruf gewählt haben. Als sie Leo auf die Trage legten, griff er nach meiner Hand.

„Versprechen Sie, dass Sie kommen?“, fragte er.

„Ich verspreche es“, sagte ich.

„Auch wenn ich früher sterbe, als die Ärzte denken?“, fragte er.

„Ganz egal wann“, sagte ich. „Wir sind da.“

Als der Wagen die Sirene eingeschaltet hatte und vom Hof rollte, sagte Rudi das, was wir alle dachten.

„Wir können nicht einfach zusehen, wie der Junge stirbt“, murmelte er.

„Nein“, sagte ich. „Können wir nicht.“


Ich verbrachte den Abend und die halbe Nacht vor dem Computer. Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Schulwebseiten.

Ich fand Sabine König relativ schnell. Alleinerziehende Mutter, Kinderkrankenschwester in einer Klinik – ausgerechnet auf der Kinderstation. Dutzende Fotos von Leo: mit Haaren, ohne Haare, mit Bauklötzen im Bett, mit Infusionsständer auf dem Klinikflur.

Unter den älteren Bildern standen Kommentare von Mitschülern und Eltern: „Wir denken an euch!“, „Leo ist so tapfer!“.

Dann, irgendwann vor gut einem Jahr, brach es ab.

Stattdessen fand ich etwas anderes – auf einer Video-Plattform, die vor allem Jugendliche nutzen. Kurze Clips. Schlechte Handyqualität.

Leo, wie er im Klassenraum zusammenbricht.
Leo, wie er in der Pause in einen Mülleimer erbricht.
Leo, wie ihm jemand von hinten die Mütze herunterreißt, sodass seine Glatze zu sehen ist.

Darüber eingeblendete Texte. „Unser Zombie wieder unterwegs“. „Wetten, er macht Weihnachten nicht mehr?“

Die Nutzernamen waren zwar anonym, aber in den Kommentaren erkannten sich die Kinder gegenseitig. „Lena, du bist so witzig“, „Kevin, du bist gemein, aber ich musste lachen“.

Ich musste aufstehen, um frische Luft zu holen.

Als ich mich wieder vor den Bildschirm setzte, fand ich noch etwas.

Einen winzigen Kanal auf einer anderen Video-Plattform, so ein Hobby-Ding für Bastler und Spieler. Name: „LeoBaut“.

47 Abonnenten. 13 Videos.

Leo, wie er aus Bausteinen eine Feuerwehrwache baut.
Leo, wie er ein kleines Raumschiff zusammensteckt.
Leo, wie er in einem Computerspiel Welten baut, mit dem Infusionsschlauch am Arm.

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