Im letzten Video saß er blass, aber lächelnd vor der Kamera.
„Hallo zusammen, hier ist wieder Leo“, sagte er. „Wahrscheinlich ist das mein letztes Video. Meine Hände zittern zu sehr. Aber ich wollte Danke sagen. An alle, die kommentiert und geliked haben. Ihr habt mich manchmal vergessen lassen, dass ich nur der Kranke bin. Also, ja… baut was Schönes. Für mich.“
Ich rief die Jungs an.
„Wir haben einen Auftrag“, sagte ich. „Keinen, für den man einen Helm braucht. Aber einen, für den man ein Herz braucht.“
Am nächsten Tag fuhr ich zur Klinik. Sabine saß neben Leos Bett. Er war wach, aber müde, ein dünnes Kind in einem viel zu großen Krankenhausbett.
„Frau König?“, fragte ich leise. „Ich bin Karl Ritter. Ihr Sohn hat uns gestern an der Tankstelle… engagiert.“
Sie starrte mich an. Ich erzählte, was passiert war. Vom Auto, vom Zwanziger, von Leos Plan.
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte lautlos.
„Er ist wirklich gefahren?“, flüsterte sie irgendwann. „Er kommt kaum allein vom Bett zur Toilette.“
„Er ist gefahren“, sagte ich. „Er hat eine Decke auf den Sitz gelegt, damit er höher sitzt. Hat einen Stock genutzt, um das Gaspedal zu erreichen. Tempomat für die Geschwindigkeit. Bremse mit der Ferse. Ich weiß nicht, ob ich beeindruckt oder entsetzt sein soll.“
Ein kleines, verzweifeltes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Er war schon als Kleinkind ein Tüftler“, sagte sie. „Immer irgendetwas am Bauen.“
Ich erklärte ihr unseren Plan. Nicht, wie Leo sich das vorgestellt hatte – mit Motorenlärm und Angst. Sondern etwas anderes.
„Die Kinder haben ihn fertiggemacht“, sagte Sabine. „Die Krankheit ist schlimm, natürlich. Aber was sie in der Schule mit ihm gemacht haben… manchmal denke ich, das hat ihn innerlich mehr zerstört als der Tumor.“
„Wir können die Zeit nicht zurückdrehen“, sagte ich. „Aber vielleicht können wir die letzten Tage anders machen.“
Sie nickte, wischte sich die Tränen weg.
„Wenn er wach ist, erzählen Sie ihm davon“, sagte sie. „Es gibt ihm Kraft, wenn Leute ihn ernst nehmen.“
Als ich das nächste Mal zu Leo ins Zimmer kam, war er wach.
„Sie sind wirklich da“, murmelte er. „Ich dachte, vielleicht hab ich das an der Tankstelle nur geträumt.“
„Ich hab mir deine Videos angeschaut“, sagte ich, setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett und holte mein Handy hervor. „Alle von ‚LeoBaut‘.“
Sein Gesicht wurde rot.
„Die sind peinlich“, murmelte er. „Fast niemand schaut die.“
„Da irrst du dich“, sagte ich. „Schau mal.“
Rudi hatte am Vorabend ein Video in unserer Vereinsgruppe hochgeladen. Zwölf alte Feuerwehrleute vor einem Fernseher, wie sie sich Leos Bau-Videos anschauen. Mit ehrlichem Staunen und Kommentaren wie: „Schau mal, wie der das löst!“, „Das hätte ich als Kind nie hinbekommen.“
Einer unserer Söhne hatte das Video in verschiedene Gruppen geschickt – zu anderen Vereinen, zu Kollegen, zu Bekannten. Und die hatten es weitergeschickt.
Als ich Leo das Handy hinhielt, sah er Zahlen, die er nicht glauben konnte.
„Wie viele sind das?“, flüsterte er.
„Hunderttausend Leute haben das gesehen“, sagte ich. „‚LeoBaut‘ hat jetzt über dreißigtausend Abonnenten. Und es werden minütlich mehr.“
Die Tränen, die ihm kamen, waren diesmal andere.
„Aber ich… ich kann doch kaum noch bauen“, sagte er.
„Dann bauen wir mit dir“, sagte ich. „Wir kommen in Schichten. Einer von uns ist immer da. Wir halten die Kamera, wir reichen Bausteine, wir lesen Kommentare vor. Und wenn du nur zwei Steine aufeinanderlegst – es ist deiner Kanal, deine Welt.“
Die nächsten Tage wurden zu etwas, das ich nie vergessen werde.
Wir organisierten Dienstpläne wie früher bei der Feuerwehr. Nur dass es diesmal nicht darum ging, Brände zu löschen, sondern einem Kind Zeit zu schenken.
Morgens kam meistens Rudi mit seinem tiefen Lachen und las Leo Kommentare vor.
Mittags war oft Anne da, unsere einzige Frau im Verein, frühere Notfallsanitäterin. Sie konnte am besten erklären, was in Leos Körper passierte, ohne ihm Angst zu machen.
Abends kam ich. Ich hielt das Handy, während Leo leise in die Kamera sprach.
„Hallo, hier ist wieder Leo“, sagte er in einem der Videos. „Heute bauen wir… na ja, eigentlich baut Karl und ich sage ihm, wo es hinkommt.“ Er grinste. „Teamarbeit.“
Die Zahlen stiegen. Fünfzigtausend. Hunderttausend. Zweihunderttausend Abonnenten.
Die Kommentare waren voll von Herz-Emojis, Bastelideen, Geschichten von anderen kranken Kindern, von Erwachsenen, die als Kinder gemobbt worden waren.
„Du bist nicht ‚Tumor-Leo‘“, schrieb jemand. „Du bist Leo, der Baumeister.“
Eines Nachmittags versuchten Lena, Kevin und Marco tatsächlich, in die Klinik zu kommen. Mit Blumen in der Hand und dem Handy bereit.
Ich stand gerade am Eingang, um mir einen Kaffee zu holen, als ich sie sah. Hübsch angezogen, ernste Mienen, aber die Handys schon im Aufnahmemodus.
„Wir wollen zu unserem Freund Leo“, sagte Lena.
„Interessant“, sagte ich. „Was Freunde so machen.“
Ich stellte mich in den Durchgang, sodass sie nicht einfach an mir vorbeikonnten.
„Der Besuch ist streng begrenzt“, sagte ich ruhig. „Nur wer auf der Liste steht, darf rein. Ihr nicht.“
„Aber wir…“, begann Kevin.
„Ich habe eure Videos gesehen“, unterbrach ich ihn. „Auch die Kommentare. Ihr wart zwei Jahre lang dabei, ihn lächerlich zu machen. Wenn ihr jetzt plötzlich Trauer-Bilder braucht, dann sucht euch jemand anderen.“
Lena wurde blass.
„Wir wollten nur…“, setzte Marco an.
„Hört zu“, sagte ich. „Wenn ihr zur Beerdigung kommt, kommt ihr ohne Handys. Ohne Kamera. Ohne Show. Und wenn ihr ein einziges falsches Wort sagt, werden es nicht Motoren sein, die euch übertönen. Es wird die Wahrheit sein. Verstanden?“
Sie sahen mich an, dann einander. Schließlich drehten sie sich um und gingen.
Leo hörte später davon.
„Sie waren wirklich da?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich. „Aber sie durften nicht rein.“
Er sagte nichts, aber er atmete ein bisschen ruhiger.
Leo starb nicht in den zehn Tagen, die die Ärzte geschätzt hatten.
Die vielen Nachrichten, die neuen Videos, das Gefühl, gesehen zu werden – all das schien ihm Kraft zu geben.
Er schaffte weitere zehn Tage. Dann noch einmal fünf. Wir feierten seinen elften Geburtstag auf der Station, mit einem kleinen Kuchen und einem Video, in dem tausende Menschen „Alles Gute“ schrieben.
Aber Körper haben Grenzen. Auch tapfere.
Leo starb an einem Donnerstag, um kurz nach drei Uhr nachmittags. Sabine hielt seine rechte Hand, ich seine linke.
Seine letzten Worte waren leise.
„Sagen Sie ihnen, sie sollen weiterbauen“, flüsterte er. „Das ist… wichtiger als alles andere.“
Wir hatten mit dreißig, vielleicht fünfzig Menschen bei der Beerdigung gerechnet. Familie, ein paar Kollegen aus der Klinik, vielleicht ein paar Nachbarn.
Es kamen über sechshundert.
Menschen aus der Stadt, aus den Dörfern drumherum, aus anderen Bundesländern. Ehemalige Kollegen von der Feuerwehr, Mitglieder anderer Vereine, Familien mit Kindern, die Leo nur aus seinen Videos kannten. Einige hatten selbst Infusionsständer dabei. Andere hatten kleine Modelle in der Hand, die sie gebaut hatten.
Vor der Aussegnungshalle standen unsere alten Motorräder und ein roter Feuerwehr-Bulli, den wir für solche Anlässe hergerichtet hatten. Leos kleiner weißer Sarg war mit bunten Bauwerken bedeckt, die Menschen ihm gebracht hatten – Häuser, Raketen, Fantasiefiguren.
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