🐾 Teil 4: Der Name im Brief
Der Zug rollte zurück durch die Dunkelheit. Clara starrte hinaus, doch sie sah nicht die verschneiten Felder, die vorbeizogen. Vor ihrem inneren Auge lagen die Briefe, jedes Wort, das sie inzwischen gelesen hatte. Sie spürte, dass sie noch nicht am Ende war. Im Gegenteil. Sie hatte gerade erst eine Tür geöffnet, hinter der mehr lag, als sie zu tragen glaubte.
Fero schlief zu ihren Füßen, der Atem ging ruhig, doch manchmal zuckte sein Ohr, als lausche er unsichtbaren Stimmen. Clara beugte sich hinunter, legte kurz die Hand auf sein Fell. Es war eine beruhigende Geste, die sie an frühere Jahre erinnerte, als sie noch jeden Morgen neben dem Atem ihres Mannes erwacht war.
Als sie spätabends in Diesdorf ankam, war der Bahnhof fast leer. Der Wind wehte Schneeflocken durch die Halle. Clara hielt ihre Tasche fester, als könne jemand die Briefe entreißen. Doch niemand war da, nur das ferne Bellen eines Hundes, das durch die Straßen hallte.
Zu Hause legte sie ein paar Holzscheite in den Ofen. Das Feuer knackte, und bald roch die Küche nach Harz und Rauch. Fero rollte sich in seinem neuen Platz auf dem Teppich zusammen. Clara aber setzte sich an den Tisch und nahm erneut ein Bündel Briefe zur Hand.
Sie wählte einen aus, der dicker war als die anderen. Das Siegel war intakt, die Kanten ausgefranst. Sie öffnete ihn vorsichtig, das Papier knisterte wie altes Laub.
Clara,
es gibt Dinge, die ich dir nicht schreiben sollte. Aber ich kann nicht mehr schweigen. Hier in Hannover habe ich einen Mann getroffen, der mir geholfen hat, Arbeit zu finden. Sein Name ist Ernst Lobeck. Er war früher bei der Reichsbahn, jetzt hat er Kontakte zu Leuten, die alles organisieren können. Ohne ihn wäre ich nicht durchgekommen. Aber ich weiß nicht, ob ich ihm trauen darf.
Clara hielt inne. Der Name sagte ihr nichts. Doch das Misstrauen, das zwischen den Zeilen lag, ließ sie aufhorchen. Wer war dieser Ernst Lobeck?
Sie las weiter.
Er redet viel von Plänen, von Papieren, von Möglichkeiten. Aber manchmal sehe ich in seinen Augen etwas Dunkles. Er kennt Leute auf beiden Seiten der Grenze. Ich fürchte, er ist nicht nur ein Helfer. Bitte glaube mir, Clara, ich wollte nur frei sein. Aber manchmal fürchte ich, dass ich mich eingelassen habe auf etwas, das mich verschlingen wird.
Clara legte den Brief beiseite. Ihre Finger zitterten. Sie spürte, dass hier etwas verborgen war, das weit über eine Liebesgeschichte hinausging.
Draußen tobte der Wind, schlug gegen die Fenster. Fero hob den Kopf und knurrte leise, als ob auch er die Unruhe spürte. Clara erhob sich, legte noch ein Stück Holz nach und starrte in die Flammen.
Ein Name. Ernst Lobeck.
Sie beschloss, ihn nicht zu vergessen. Irgendwo musste dieser Mann Spuren hinterlassen haben. Wenn er Jakob wirklich geholfen hatte, musste es Aufzeichnungen geben, Erinnerungen, vielleicht sogar Menschen, die noch etwas wussten.
Am nächsten Morgen nahm Clara die Briefe mit in das kleine Heimatmuseum des Dorfes, das in einem alten Fachwerkhaus untergebracht war. Der Museumsleiter, Herr Wittenhagen, war ein Mann mit rundem Gesicht und leiser Stimme. Er hatte ein Herz für alte Geschichten und für die Menschen, die sie erzählten.
Clara zeigte ihm vorsichtig den Brief. Er las ihn aufmerksam, dann schüttelte er den Kopf. „Der Name sagt mir nichts. Aber es gab viele, die damals zwischen den Welten standen. Schmuggler, Helfer, auch Spitzel. Manche halfen den Flüchtenden, andere verrieten sie. Es war eine Zeit voller Schatten.“
„Meinst du, dass dieser Lobeck Jakob verraten haben könnte?“ fragte Clara.
Herr Wittenhagen sah sie ernst an. „Das kann ich nicht sagen. Aber wenn er so gefährlich war, wie dein Freund schrieb, dann gibt es vielleicht irgendwo noch Unterlagen. In Stendal gibt es ein Archiv, dort liegen viele Akten aus den sechziger Jahren. Manchmal finden sich Namen wieder.“
Clara dankte ihm. Sie fühlte, wie sich die Spur verdichtete. Ein Name, ein möglicher Verräter, ein verborgenes Schicksal.
Als sie das Museum verließ, begann es wieder zu schneien. Die Flocken trieben über den Marktplatz, legten sich wie eine Decke über die Häuser. Fero sprang neben ihr her, seine Pfoten hinterließen dunkle Spuren auf dem weißen Pflaster.
Clara dachte an Jakob. Hatte er je gewusst, dass seine Briefe in einem zugeschneiten Schuppen überleben würden? Hatte er gehofft, dass sie sie eines Tages lesen würde? Oder war es nur ein letzter Versuch gewesen, sich Gehör zu verschaffen, bevor die Schatten ihn verschluckten?
In dieser Nacht konnte sie kaum schlafen. Immer wieder sah sie Jakobs Handschrift vor sich, die Bitte zwischen den Zeilen, ihn nicht zu vergessen. Sie hörte seine Stimme, als ob sie durch den Schnee flüsterte.
Am Morgen stand ihr Entschluss fest. Sie würde nach Stendal fahren, ins Archiv. Dort musste sie suchen, ob es Spuren von Jakob oder diesem Ernst Lobeck gab.
Fero bellte einmal, kurz und kräftig, als sie ihre Tasche packte. Clara lächelte. Es war, als würde er ihr sagen: Ich gehe mit dir.
Und so machten sie sich auf, durch den Winter, der noch lange kein Ende nehmen wollte.
Clara ahnte nicht, dass der Name im Brief ein Tor öffnete zu einer Wahrheit, die sie seit Jahrzehnten nicht hatte sehen wollen.