Stimmen im Schnee | Ein zufälliger Fund im Winterwald und eine Liebe, die nach fünfzig Jahren zurückkehrt

🐾 Teil 5: Die Akten in Stendal

Die Fahrt nach Stendal dauerte nicht lange, doch für Clara war es ein Schritt, der sich anfühlte wie ein Übergang in eine andere Welt. Der Zug war fast leer, nur das rhythmische Schlagen der Räder begleitete sie. Fero lag still unter der Bank, die bernsteinfarbenen Augen stets auf sie gerichtet.

Das Archiv befand sich in einem alten Backsteingebäude, das früher ein Amtsgericht gewesen war. Der hohe Flur roch nach Staub, Papier und der kühlen Feuchtigkeit alter Mauern. Clara spürte ein Frösteln, als sie eintrat. Eine junge Frau am Empfang musterte sie mit einem höflichen, aber skeptischen Blick, als sie nach alten Akten fragte.

„Haben Sie einen Namen?“ fragte die Frau und zog ein Formular hervor.

Clara schrieb mit zitternder Hand: Jakob Krüger, geboren 1942, vermisst seit 1961. Dann hielt sie inne. Schließlich fügte sie noch hinzu: Ernst Lobeck.

Die Frau verschwand in die Tiefe des Hauses, während Clara und Fero im Wartebereich Platz nahmen. Die Minuten dehnten sich, das Ticken der großen Wanduhr hallte in ihrem Kopf wider. Sie dachte daran, wie viele Jahre sie geschwiegen hatte, wie viele Fragen sie verdrängt hatte. Nun wollte sie endlich Antworten.

Nach einer halben Stunde kam die Archivarin zurück. In ihren Händen hielt sie einen grauen Karton, auf dessen Deckel verblasste Nummern standen. Sie legte ihn vorsichtig auf den Tisch.

„Das ist alles, was wir haben. Sie können hier lesen, aber bitte vorsichtig.“

Claras Finger zitterten, als sie den Deckel anhob. Darin lagen vergilbte Dokumente, maschinengeschriebene Berichte, einzelne handschriftliche Vermerke. Sie zog das erste Blatt hervor.

Es war ein Polizeiprotokoll aus dem Jahr 1962. Darin stand, dass ein gewisser Jakob Krüger in Hannover aufgefallen sei, verdächtigt, mit Personen in Verbindung zu stehen, die „staatsgefährdende Aktivitäten“ planten. Clara spürte, wie ihr Herz raste. War Jakob in Gefahr geraten, weil er einfach nur in den Westen gegangen war?

Sie las weiter. Ein zweites Dokument erwähnte, dass Jakob in Begleitung eines Mannes gesehen worden war: Ernst Lobeck. Dort stand, Lobeck sei bekannt für „grenzüberschreitende Tätigkeiten“ und habe Kontakte zu verschiedenen Kreisen.

Clara hielt inne. Genau wie Jakob in seinem Brief geschrieben hatte. Er hatte diesem Mann nicht getraut, und offenbar zu Recht.

Ein drittes Dokument war nur ein kurzer Vermerk. „Subjekt J.K. zuletzt gesehen in Hamburg, Frühjahr 1963. Weitere Spur verloren.“

Clara starrte auf das Papier. Hamburg. Nicht mehr Hannover. Ein Sprung in eine Stadt, die sie selbst nur vom Hörensagen kannte. Ihre Kehle schnürte sich zu. Hatte Jakob dort ein neues Leben begonnen? Oder war er dort verschwunden, so wie er einst in Diesdorf verschwunden war?

Der Hund legte den Kopf auf ihre Knie, als spüre er ihre innere Unruhe. Clara strich ihm langsam über das Fell.

Die Archivarin trat näher. „Ist das hilfreich für Sie?“

Clara nickte stumm. Hilfreich war es, aber es brachte auch neue Fragen. Hamburg. Ernst Lobeck. Ein Name, der wie ein Schatten durch die Akten wanderte.

Sie durfte Kopien machen lassen. Als sie später mit den Papieren in der Tasche den Saal verließ, fühlte sie sich schwer, doch zugleich entschlossen. Sie war nicht mehr die alte Frau, die nur durch den Schnee spazierte. Sie war eine Suchende geworden.

Auf der Rückfahrt sah sie wieder die weiße Landschaft vorbeiziehen. Doch diesmal empfand sie keine Stille, sondern eine fiebrige Unruhe. Hamburg. Sie würde dorthin müssen, auch wenn die Stadt groß und fremd war.

Am Abend saß sie wieder an ihrem Küchentisch. Sie legte die neuen Dokumente neben die Briefe. Ein Netz spannte sich vor ihr aus. Jakob, Hannover, Hamburg, und immer wieder dieser Lobeck, dessen Rolle unklar blieb. Helfer, Verräter, oder beides zugleich.

Sie nahm einen letzten Brief aus der Tasche, den sie bisher noch nicht geöffnet hatte. Das Siegel war brüchig, doch noch intakt. Sie brach es vorsichtig auf und begann zu lesen.

Clara,
ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Wenn ich es nicht schaffe, wirst du vielleicht nie erfahren, was wirklich geschehen ist. Aber eines musst du wissen: vertraue nicht allem, was sie dir erzählen. Nicht jeder, der dir Informationen gibt, will die Wahrheit. Ich hoffe, eines Tages kannst du mir vergeben.

Clara legte den Brief nieder. Ihre Augen waren feucht, doch es war nicht nur Trauer. Es war eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit.

Fero hob den Kopf, als hätte er verstanden, dass etwas Entscheidendes geschehen war. Sein Blick war fest, als wolle er sagen: Wir gehen weiter.

Clara atmete tief durch. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben wieder eine Richtung hatte. Nicht zurück in die Vergangenheit, sondern hinein in ein Geflecht von Erinnerungen und Geheimnissen, das noch nicht gelöst war.

Sie wusste, dass der nächste Schritt unausweichlich war. Hamburg wartete.

Und während draußen der Wind über Diesdorf heulte, wusste Clara, dass die nächste Spur sie in die große, kalte Stadt Hamburg führen würde.

Scroll to Top