🐾 Teil 6: Hamburg im Nebel
Hamburg war eine andere Welt. Schon als Clara aus dem Zug stieg, umfing sie ein anderes Geräusch, ein anderes Tempo. Das Rufen der Möwen mischte sich mit dem Dröhnen der Straßenbahnen, und die kalte Luft trug den salzigen Geruch des Hafens. Fero blieb dicht an ihrer Seite, sein Fell sträubte sich leicht, als wäre er unsicher in dieser fremden Stadt.
Clara hielt ihre Tasche mit den Briefen fest umklammert. Sie war jetzt fünfundsiebzig, und dennoch fühlte sie sich wie eine junge Frau, die allein in eine unbekannte Zukunft aufbricht. Ihre Füße trugen sie durch das Gedränge, vorbei an Fischständen, alten Männern in wetterfesten Jacken, vorbei an Schildern, die ihr nichts sagten und doch eine Verheißung in sich trugen.
Die Adresse aus den Akten führte sie in die Nähe des Hafens. Dort, in einer kleinen Seitenstraße, stand ein Gebäude, das einst eine Werkstatt gewesen war. Die Backsteinmauern waren schwarz vor Ruß, die Fenster blind von Staub. Ein Schild hing schief an der Tür: „Lobeck Transporte“. Clara blieb stehen. Ihr Herz klopfte, als hätte sie die Schwelle zu einem verbotenen Ort erreicht.
Sie trat ein. Drinnen roch es nach Öl und Eisen. Ein alter Mann stand hinter einem Tresen, die Hände schwarz von Schmiere. Seine Augen waren hell, aber wachsam.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er, ohne viel Interesse.
Clara holte tief Luft. „Ich suche nach Informationen über einen Mann. Sein Name war Ernst Lobeck.“
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Mannes. „Der Name ist lange her. Warum fragen Sie?“
Clara zögerte, dann zog sie einen der Briefe aus der Tasche. „Weil er in Verbindung stand mit Jakob Krüger. Er war… wichtig für mich.“
Der Mann nahm den Brief, betrachtete die Schrift, dann gab er ihn zurück. „Ich erinnere mich. Lobeck war kein guter Mensch. Er hat viele benutzt. Manche sind durchgekommen, andere nicht. Manche hat er verkauft, damit er selbst überlebt.“
Claras Hände zitterten. „Und Jakob?“
Der Mann sah sie lange an. „Ich erinnere mich, dass er hier war. Ein junger Mann mit ernsten Augen. Er wollte weiter nach Norden. Lobeck versprach ihm Hilfe. Aber dann war er plötzlich weg. Niemand hat ihn mehr gesehen.“
Clara spürte, wie der Boden unter ihr schwankte. Fero drängte sich an ihr Bein, als wolle er sie stützen.
„Wo ist Lobeck jetzt?“ fragte sie schließlich.
Der Mann zuckte die Schultern. „Tot, nehme ich an. Er war schon damals alt. Aber Spuren gibt es vielleicht noch. Fragen Sie im Hafenviertel. Dort kennt man solche Geschichten.“
Clara bedankte sich und trat hinaus. Der Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, und das Rufen der Möwen klang wie ferne Stimmen. Hamburg wirkte groß und feindlich, doch zugleich fühlte sie, dass Jakob hier irgendwo seine letzten Schritte gemacht hatte.
Am Abend fand Clara eine kleine Pension nahe der Speicherstadt. Das Zimmer war einfach, das Bett hart, doch sie war zu müde, um wählerisch zu sein. Fero rollte sich am Fußende zusammen, seine Wärme war ihr Trost.
Sie lag lange wach. Immer wieder griff sie nach den Briefen, las einzelne Zeilen, als könnte sie Jakob dadurch näher sein. Dann schlief sie ein, unruhig, voller Bilder von Zügen, von Mauern, von Jakobs Gesicht.
Am nächsten Morgen ging sie in das Hafenviertel. Die Docks lagen still im Winternebel, riesige Kräne ragten wie dunkle Skelette in den Himmel. Männer in schweren Mänteln schoben Karren, die Luft roch nach Salz und Kohle. Clara fragte, suchte, hörte Geschichten. Die meisten zuckten mit den Schultern. Doch einer, ein alter Hafenarbeiter mit wettergegerbtem Gesicht, nickte, als sie den Namen Jakob nannte.
„Ja, ich erinnere mich. Ein Junge aus dem Osten. Er wollte auf ein Schiff. Nach Schweden vielleicht, oder nach England. Aber er ist nie an Bord gegangen. Man sagte, jemand habe ihn zurückgehalten.“
Claras Herz zog sich zusammen. „Zurückgehalten? Von wem?“
Der Mann sah sie ernst an. „Von Lobeck. Er war überall im Hafen. Manchmal half er Leuten, manchmal… nun ja. Er hat sich bezahlt machen lassen.“
Clara schluckte. „Und was ist mit Jakob geschehen?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Niemand weiß es. Manche sagen, er sei verschwunden, andere, er sei ins Wasser gefallen. Aber ich weiß eines: seine Augen vergesse ich nicht. So voller Hoffnung, und dann plötzlich voller Angst.“
Clara stand stumm da. Der Nebel kroch in ihre Knochen, und Fero drückte sich an ihr Bein. Sie wusste, dass die Spur sie tiefer in eine Dunkelheit führte, die sie kaum ertragen konnte.
Später saß sie am Kai, sah hinaus auf das graue Wasser. Die Briefe lagen in ihrem Schoß, die Seiten flatterten leicht im Wind. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das eine Tür geöffnet hatte, hinter der nur Schatten warteten.
Fero setzte sich neben sie, sein Kopf auf ihrem Schoß, seine Augen still und treu.
„Was, wenn er nie entkommen ist?“ flüsterte sie. „Was, wenn ich ihn die ganze Zeit im Schnee gesucht habe, während er hier… verloren ging?“
Sie sah in die Wellen, und für einen Moment war es, als hörte sie eine Stimme. Leise, vertraut, durch den Wind getragen.
Clara, vergiss mich nicht.
Sie schloss die Augen, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie noch nicht am Ende war. Hamburg hatte ihr keine Antwort gegeben, sondern nur ein neues Rätsel.
Am Abend, zurück in der Pension, fand sie in der Tasche einen Brief, den sie noch nie bemerkt hatte. Zwischen den alten Bündeln war er herausgefallen, unscheinbar, fast verborgen.
Das Datum: Frühjahr 1963.
Und die ersten Worte ließen ihr Herz stillstehen.
Clara, wenn du dies liest, dann weißt du, dass ich in Gefahr bin.
Mit bebenden Händen hielt Clara den Brief, ahnungslos, dass er die dunkelste Wahrheit von allen enthüllte.