🐾 Teil 7: Der Brief aus dem Frühjahr
Clara saß am kleinen Tisch der Pension, das schwache Licht einer Lampe warf einen gelben Kreis auf die Seiten. Der Brief zitterte in ihren Händen, als sie ihn langsam auffaltete. Das Papier war dünn, fast durchscheinend, die Tinte unruhig, als sei er in Eile geschrieben worden.
Clara,
ich habe keinen Ort mehr, an den ich gehen kann. Lobeck hat mir gesagt, er könne mir helfen, aber ich glaube ihm nicht mehr. Er hat Leute, die ihm folgen, und ich fürchte, sie beobachten auch mich. Wenn ich verschwinde, dann suche nicht nach mir. Es ist zu gefährlich. Aber ich will, dass du weißt, dass ich dich nie vergessen habe. Du warst das Einzige, was mich getragen hat.
Clara las die Worte zweimal, dreimal. Sie spürte, wie ihr Herz schmerzte, als hätte sie diesen Brief nicht mit den Augen, sondern mit den Adern gelesen. All die Jahre war sie durch ihr Leben gegangen in der Überzeugung, Jakob habe sie verraten oder vergessen. Nun stand es schwarz auf weiß: Er hatte sie geliebt bis zuletzt.
Sie legte den Brief nieder, die Finger krallten sich in das Papier, als wolle sie es festhalten, um nicht selbst auseinanderzufallen. Fero stupste sie an, seine bernsteinfarbenen Augen spiegelten ihre Trauer, und doch war darin eine stille Kraft, die sie zurück ins Jetzt holte.
„Wir finden die Wahrheit“, flüsterte Clara. „Auch wenn sie dunkel ist.“
Am nächsten Morgen ging sie zurück in das Hafenviertel. Die Kälte schnitt ihr ins Gesicht, Nebel hing zwischen den Speichern. Sie suchte gezielt nach älteren Leuten, die die frühen sechziger Jahre noch erlebt hatten. Schließlich traf sie in einer kleinen Kneipe einen Mann, der sich als Karl Hennigs vorstellte, ehemaliger Hafenarbeiter.
Er hörte ihr aufmerksam zu, während sie von Jakob sprach. Dann nickte er langsam. „Ja, ich erinnere mich an ihn. Ein stiller Bursche, aber mit leuchtenden Augen. Er war kurz davor, auf ein Schiff zu gehen. Doch er wurde zurückgehalten. Ich sah, wie zwei Männer ihn an den Armen packten. Einer davon war Lobeck. Den anderen habe ich nie gekannt.“
Claras Atem stockte. „Was geschah danach?“
„Sie führten ihn weg. In ein Lagerhaus dort hinten, bei den stillgelegten Schuppen. Ich bin ihnen nicht gefolgt, aber am nächsten Tag war der Junge verschwunden. Niemand sprach darüber. Es war eine Zeit, in der Schweigen sicherer war als Reden.“
Clara fühlte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie setzte sich auf die Bank, die Hände ineinander verschränkt. Die Vorstellung, dass Jakob in einem der dunklen Schuppen verschwunden war, schnürte ihr die Kehle zu.
„Gibt es das Lagerhaus noch?“ fragte sie leise.
Karl nickte. „Ja. Es steht leer, verfällt langsam. Manche sagen, es sei verflucht.“
Clara dankte ihm und machte sich auf den Weg. Fero blieb dicht neben ihr, als ahne er, dass sie an einen Ort ging, an dem Antworten und Schmerz gleich dicht beieinander lagen.
Das Lagerhaus stand tatsächlich noch. Ein grauer Klotz aus Backstein, von Feuchtigkeit zerfressen, die Fenster eingeschlagen, das Dach teilweise eingestürzt. Ein Ort, der nach Vergessen roch. Clara trat näher, ihr Atem ging schneller. Sie legte die Hand auf die alte Holztür.
Im Inneren war es dunkel, nur einzelne Lichtstrahlen fielen durch Löcher im Dach. Der Boden war voller Schutt, Holzsplitter und rostiger Nägel. Fero schnüffelte, sein Schwanz hoch, seine Bewegungen angespannt.
Clara ging langsam weiter hinein. Jeder Schritt knirschte unter ihren Schuhen. Sie sah alte Eisenhaken an den Wänden, Kisten, die längst verrottet waren. Dann entdeckte sie in einer Ecke etwas, das den Atem in ihr stocken ließ.
Ein Stück Stoff, zerfranst, aber noch erkennbar. Ein Hemdsärmel, der aus einer Ritze zwischen den Holzbrettern ragte. Sie bückte sich, zog vorsichtig daran, und ein Rest eines Hemdes kam zum Vorschein. Das Muster war kariert, die Farben verblasst. Doch in Claras Erinnerung lebte es sofort auf. Jakob hatte ein solches Hemd getragen, damals, an jenem Sommerabend auf der Kirchweih.
Tränen schossen ihr in die Augen. Sie drückte den Stoff an ihr Gesicht, als könne sie dadurch die verlorenen Jahrzehnte überwinden.
Fero bellte plötzlich scharf. Er stand mit erhobenem Kopf, die Ohren gespitzt, den Blick auf die hintere Wand gerichtet. Clara folgte seinem Blick. Dort war ein kleiner Verschlag, eine Tür, die halb eingestürzt war.
Sie ging langsam darauf zu, das Herz hämmerte in ihrer Brust. Hinter der Tür lag ein schmaler Raum, kaum größer als ein Verschlag. Auf dem Boden lag eine Metallkiste, verrostet, aber verschlossen.
Clara kniete nieder. Ihre Finger strichen über den Deckel, der von Jahrzehnten der Feuchtigkeit gezeichnet war. Sie spürte, dass dies etwas war, das Jakob oder vielleicht Lobeck hier hinterlassen hatte.
Mit einem Ruck zog sie die Kiste hervor. Sie war schwer, schwerer, als sie erwartet hatte. Fero knurrte leise, als spürte er, dass das, was darin lag, nicht nur Antworten bringen würde.
Clara setzte sich auf den Boden, das Hemd noch neben sich, und starrte auf die Kiste. Ihre Hände wollten den Deckel aufbrechen, doch gleichzeitig fürchtete sie, was sie finden würde.
Die Luft im Raum war stickig, voller Staub und Schatten.
Clara wusste, dass sie die Kiste öffnen musste. Aber sie spürte auch, dass mit diesem Schritt eine Grenze überschritten würde, die ihr Leben für immer verändern könnte.
Mit zitternden Fingern legte Clara die Hand auf den rostigen Deckel der Kiste, ohne zu ahnen, welche Wahrheit sie gleich befreien würde.