Stimmen im Schnee | Ein zufälliger Fund im Winterwald und eine Liebe, die nach fünfzig Jahren zurückkehrt

🐾 Teil 8: Die Kiste im Verschlag

Clara kniete im Staub des alten Lagerhauses. Ihre Finger ruhten auf dem rostigen Deckel, während Fero unruhig um sie kreiste. Sein Knurren hallte in der Dunkelheit wider, und das Echo wirkte, als ob unsichtbare Stimmen in den Wänden flüsterten.

Sie drückte den Riegel hoch. Er klemmte, doch schließlich gab er nach, und mit einem ächzenden Laut öffnete sich die Kiste. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, eine Mischung aus Metall, feuchtem Holz und etwas, das nach Jahrzehnten des Schweigens roch.

Clara beugte sich vor. Drinnen lagen mehrere Gegenstände, sorgfältig ineinander gestapelt. Zuerst sah sie ein Bündel Briefe, fest mit einem Lederriemen gebunden. Ihre Augen brannten, als sie Jakobs Handschrift erkannte.

Daneben lag ein kleines Notizbuch, der Einband aus Leder, die Kanten aufgequollen vom Wasser. Sie nahm es vorsichtig heraus. Die Seiten waren eng beschrieben, voller Gedanken, Skizzen, Namen. Manche Wörter waren kaum zu entziffern, doch andere sprangen ihr sofort ins Auge: Freiheit, Grenze, Verrat.

Unter dem Notizbuch fand sie ein Foto. Es war vergilbt, an den Rändern eingerissen. Zwei Männer standen darauf. Der eine war eindeutig Jakob, jung, mit ernsten Augen, den Blick in die Ferne gerichtet. Neben ihm ein älterer Mann mit hartem Gesicht und tiefen Falten – es musste Lobeck sein.

Clara hielt das Foto lange in den Händen. Sie spürte, dass dies der Beweis war, dass Jakob wirklich hier gewesen war, gefangen in einem Netz aus Hoffnungen und falschen Versprechen.

Doch dann entdeckte sie etwas, das ihr den Atem raubte. Am Boden der Kiste lag ein kleiner, metallener Anhänger, an einer dünnen Kette. Sie erkannte ihn sofort. Jakob hatte ihn ihr im Sommer 1960 geschenkt, ein einfaches Kreuz, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Sie hatte es eines Tages verloren und nie wiedergefunden. Nun lag es hier, im Dunkel des Verschlags.

Clara schloss die Augen, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie fühlte Jakobs Nähe stärker als jemals zuvor, und doch lag zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer aus Zeit und Geheimnissen.

Fero bellte plötzlich, laut und scharf. Clara fuhr herum. Der Hund stand mit gesträubtem Fell, den Blick auf die Tür gerichtet. Ein Geräusch war durch den Schuppen gedrungen, ein Knacken von Holz, als habe jemand draußen einen Schritt gemacht.

„Ist da jemand?“ rief Clara, ihre Stimme hallte unsicher durch den Raum. Keine Antwort. Nur das Rauschen des Windes und das ferne Kreischen einer Möwe.

Fero knurrte weiter, bis das Geräusch verstummte. Dann legte er sich wieder neben sie, die Muskeln noch angespannt. Clara strich ihm über den Kopf, auch um sich selbst zu beruhigen.

Sie sammelte die Fundstücke ein, legte sie vorsichtig in ihre Tasche. Besonders das Notizbuch wollte sie lesen, Seite für Seite. Vielleicht würde es ihr die Wahrheit sagen, die Jakob in seinen Briefen nicht mehr aussprechen konnte.

Als sie den Schuppen verließ, schneite es erneut. Die Flocken wirbelten im Wind, legten sich wie eine Decke über die Spuren im Schnee. Clara blickte zurück. Das Gebäude wirkte wie ein Grabmal, als wolle es die Geheimnisse nie freigeben.

Zurück in der Pension setzte sie sich an den Tisch. Sie zündete eine kleine Lampe an, öffnete das Notizbuch und begann zu lesen.

Die ersten Seiten waren Alltägliches: Orte, Adressen, kurze Beobachtungen. Doch bald änderte sich der Ton.

Ich habe mich auf Lobeck eingelassen, schrieb Jakob. Ich dachte, er würde mir helfen, weiterzukommen. Aber er spielt ein doppeltes Spiel. Er verkauft Namen, und ich fürchte, meiner ist der nächste. Ich höre Stimmen im Hafen, sie sagen, manche verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Clara stockte der Atem. Sie blätterte weiter.

Wenn ich es nicht schaffe, will ich, dass du weißt: Ich habe es für dich versucht. Für uns. Ich wollte frei sein, damit wir eines Tages ohne Mauern leben können. Aber ich spüre, dass jemand mich beobachtet.

Die Schrift wurde zittrig, die Sätze kürzer. Auf einer der letzten Seiten stand nur noch ein Satz.

Wenn ich verschwinde, dann suche die Wahrheit in Stendal.

Clara starrte auf die Zeilen. Sie war in Stendal gewesen. Sie hatte die Akten gesehen. Und nun führte sie der Kreis zurück zu denselben Namen, denselben Schatten. Es war, als hätte Jakob gewusst, dass sein Weg irgendwann wieder zu ihr führen würde.

Fero legte den Kopf auf ihre Knie. Sie strich ihm durchs Fell, während ihr Blick auf das vergilbte Foto fiel. Jakob und Lobeck, nebeneinander. Zwei Leben, die sich berührt hatten, nur um einander zu zerstören.

Clara wusste, dass sie den nächsten Schritt gehen musste. Sie musste mehr über Lobeck erfahren. Wenn er tot war, wie man sagte, dann gab es vielleicht noch Familie, Nachkommen, oder jemand, der seine Spuren bewahrt hatte.

Sie griff zum Telefonbuch der Stadt. Der Name Lobeck war selten, und doch fand sie einen Eintrag. Ein gewisser Matthias Lobeck, wohnhaft in einem Vorort von Hamburg.

Claras Hände wurden kalt. War er ein Sohn? Ein Enkel? Würde er die Wahrheit kennen oder sie verschweigen?

Es war spät in der Nacht, doch Clara konnte nicht schlafen. Sie lag wach, hörte den Atem des Hundes, das leise Knacken der alten Pension, und dachte an die Kette, das Notizbuch, die letzten Worte Jakobs.

Am Morgen würde sie zu diesem Matthias gehen. Und vielleicht würde er ihr sagen, was aus Jakob geworden war.

Noch wusste Clara nicht, ob sie am nächsten Tag Antworten finden würde oder neue Schatten, die sie kaum ertragen konnte.

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