Stimmen im Schnee | Ein zufälliger Fund im Winterwald und eine Liebe, die nach fünfzig Jahren zurückkehrt

🐾 Teil 9: Die Spur der Familie

Am Morgen lag ein grauer Himmel über Hamburg. Der Nebel hatte sich über die Straßen gelegt, und Clara fühlte sich, als würde sie durch eine Stadt wandern, die selbst ihre Geheimnisse verbergen wollte. Fero trottete neben ihr her, aufmerksam, wachsam, die Nase tief über dem Boden, als suchte auch er nach Spuren, die die Zeit hinterlassen hatte.

Clara hielt den Zettel mit der Adresse fest in der Hand. Matthias Lobeck, so stand es im Telefonbuch. Ein Name, der ihr Herz schneller schlagen ließ, weil er das Gewicht der Vergangenheit trug. Sie wusste nicht, ob dieser Mann ihr helfen würde oder ob er das Erbe seines Namens verteidigte.

Das Haus lag in einem Vorort, eine schmale Straße mit alten Linden, die im Winter kahl und knorrig wirkten. Vor dem Haus stand ein Wagen, die Fenster waren schlicht, ein kleiner Garten lag erstarrt unter dem Frost. Clara zögerte, bevor sie die Klingel drückte. Fero saß still neben ihr, als wüsste er, dass dieser Augenblick wichtig war.

Die Tür öffnete sich. Ein Mann Mitte fünfzig stand da, groß, mit schmalem Gesicht und grauen Schläfen. Seine Augen waren wachsam, aber nicht kalt.

„Ja?“ fragte er.

Clara räusperte sich. „Mein Name ist Clara Heine. Ich suche Informationen über Ernst Lobeck. Waren Sie mit ihm verwandt?“

Der Mann runzelte die Stirn. „Ernst Lobeck war mein Großvater. Er starb, als ich noch ein Kind war. Warum fragen Sie?“

Clara atmete tief durch. „Weil er in Verbindung stand mit Jakob Krüger. Und Jakob war…“ Ihre Stimme stockte, doch sie zwang sich, weiterzusprechen. „Er war meine erste Liebe.“

Ein Schweigen breitete sich aus. Matthias Lobeck musterte sie, als versuche er zu erkennen, ob sie die Wahrheit sagte. Schließlich bat er sie herein.

Das Wohnzimmer war schlicht, ein Bücherregal, ein alter Sessel, Bilder an den Wänden. Auf einem der Fotos erkannte Clara den Mann vom vergilbten Foto in der Kiste. Derselbe harte Blick, dieselbe Stirn. Ernst Lobeck.

„Mein Großvater war ein schwieriger Mann,“ begann Matthias. „Mein Vater sprach kaum über ihn. Er sagte nur, dass Ernst in dunkle Dinge verwickelt war, besonders in den Jahren nach dem Krieg und während der geteilten Zeit. Manche nannten ihn einen Helfer, andere einen Verräter. Ich habe nie verstanden, was davon wahr war.“

Clara legte das Foto auf den Tisch, das sie im Schuppen gefunden hatte. „Jakob war mit ihm hier. Ich habe Briefe. Und ein Notizbuch. Es deutet darauf hin, dass Ihr Großvater ihn gefangen hielt oder verraten hat.“

Matthias sah lange auf das Foto. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Ich fürchte, das überrascht mich nicht. Es gibt in meiner Familie viele Schatten. Manche, die nie aufgearbeitet wurden.“

Clara zog das Notizbuch hervor, zeigte ihm die zittrigen Zeilen. Matthias las schweigend, dann legte er es zurück. „Wenn Jakob damals verschwand, dann weiß ich nicht, ob mein Großvater die Antwort hinterließ. Aber…“ Er stand auf, ging zu einem alten Schrank, öffnete eine Schublade und zog eine kleine Schatulle hervor. „Dies habe ich nach dem Tod meines Vaters gefunden. Ich konnte nie etwas damit anfangen. Vielleicht gehört es zu Ihrer Geschichte.“

Clara öffnete die Schatulle. Drinnen lag ein Schlüssel, alt, schwer, mit einem Eisenring. Daneben ein kleiner Zettel, auf dem eine Adresse stand: Hamburg, Am Sandtorkai 17.

Claras Herz schlug schneller. „Was ist dort?“

Matthias schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Lagerraum, vielleicht nur ein Büro, das längst nicht mehr existiert. Aber es war das Einzige, was mein Vater aus den Sachen meines Großvaters aufbewahrt hat.“

Clara nahm den Schlüssel, als halte sie einen Schatz in der Hand. Fero legte die Ohren an, als spüre er die Spannung im Raum.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Clara leise. „Sie haben mir mehr gegeben, als Sie ahnen.“

Matthias nickte. „Wenn mein Großvater Schuld trägt, dann soll es wenigstens nicht im Dunkeln bleiben.“

Als Clara das Haus verließ, fühlte sie sich schwer und leicht zugleich. Schwer, weil die Vergangenheit plötzlich eine Tür geöffnet hatte, die zu Jakobs letzten Tagen führen konnte. Leicht, weil sie nicht mehr allein suchte. Auch die Nachfahren Lobecks schienen die Last spüren zu wollen.

Am Nachmittag stand Clara vor dem Gebäude am Sandtorkai. Es war ein alter Speicher, die Backsteine dunkel vor Feuchtigkeit, die Fenster vernagelt. Schilder warnten vor Einsturzgefahr, doch das Tor war noch da, verriegelt, rostig.

Sie hielt den Schlüssel fest in der Hand. Fero stand dicht an ihrer Seite, sein Fell aufgestellt, als ahne er, dass hier ein Stück Wahrheit verborgen lag. Clara steckte den Schlüssel ins Schloss. Er passte. Mit einem krächzenden Geräusch drehte er sich.

Die Tür öffnete sich langsam. Ein Geruch aus Moder, Salz und altem Holz schlug ihr entgegen. Drinnen lag ein Raum, groß und leer, nur durchbrochen von einzelnen Kisten und Balken. Das Licht fiel schwach durch die Ritzen, Staub wirbelte in der Luft.

Clara trat ein, ihre Schritte hallten von den Wänden. Fero schnupperte, seine Bewegungen angespannt. Sie ging tiefer in den Speicher. Zwischen den Kisten entdeckte sie eine Truhe, groß, verschlossen, das Holz dunkel vor Alter.

Sie kniete nieder, legte die Hand auf den Deckel. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Der Schlüssel in ihrer Tasche war klein, doch vielleicht passte er.

Sie versuchte es. Mit einem Klicken sprang das Schloss auf.

Clara öffnete die Truhe.

Drinnen lag kein Gold, keine Schätze. Nur alte Papiere, Fotografien und ein Bündel Kleidungsstücke. Obenauf ein weiterer Briefumschlag, vergilbt, doch noch versiegelt. Darauf stand in klarer Schrift: Für Clara.

Ihr Atem stockte. Ihre Finger streckten sich nach dem Umschlag, doch sie wagte nicht, ihn sofort zu öffnen.

Fero stand neben ihr, die Augen wach, die Muskeln gespannt. Der Raum schien stiller zu werden, als halte die Vergangenheit den Atem an.

Clara nahm den Umschlag in beide Hände. Sie wusste, dass dies Jakobs letzte Worte an sie sein mussten. Worte, die fünfzig Jahre auf sie gewartet hatten.

Mit klopfendem Herzen hielt Clara den Brief an sich, ohne zu wissen, dass er das Ende ihrer Suche und zugleich den Anfang einer Wahrheit bedeutete, die ihr Leben für immer verändern würde.

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