Stimmen im Schnee | Ein zufälliger Fund im Winterwald und eine Liebe, die nach fünfzig Jahren zurückkehrt

🐾 Teil 10: Der letzte Brief

Clara saß auf dem kalten Boden des Speichers, die Hände umklammerten den vergilbten Umschlag. Ihre Finger zitterten, als sie das brüchige Siegel löste. Fero legte sich neben sie, seine Wärme war wie ein Schutz gegen die eisige Stille, die den Raum erfüllte.

Sie öffnete den Brief. Die Schrift war Jakobs, unverkennbar, auch wenn sie von der Hast seiner Hand zerrissen wirkte.

Clara,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich vielleicht nicht mehr am Leben. Ich habe versucht, dir zu schreiben, doch nicht jeder Brief hat dich erreicht. Manche haben sie abgefangen. Manche habe ich versteckt, in der Hoffnung, dass du sie eines Tages finden würdest.

Ich wollte zu dir zurück. Jeder Schritt, den ich getan habe, war für diesen Tag. Aber Lobeck hat mich in seine Hände genommen. Er versprach mir den Weg in die Freiheit, doch er hat mich verkauft. Männer kamen in der Nacht, brachten mich hierher. Ich weiß nicht, ob ich entkommen werde.

Clara hielt inne, ihre Augen verschwammen. Der Staub, der durch das Licht fiel, wirkte wie kleine Sterne, die im Speicher schwebten. Sie wischte über die Seite und las weiter.

Ich habe keine Angst mehr um mich. Ich habe Angst um dich, dass du eines Tages glaubst, ich hätte dich vergessen. Das ist die größte Lüge. Du warst mein Licht in den dunkelsten Stunden. Wenn du dies liest, dann weißt du, dass meine Liebe nicht verloren gegangen ist. Sie hat überlebt, auch wenn ich es vielleicht nicht habe.

Sie presste den Brief an ihre Brust. Das Holz unter ihr schmerzte, doch sie fühlte es nicht. In ihrem Inneren brach etwas auf, ein Strom von Trauer, aber auch von Frieden. Zum ersten Mal in all den Jahrzehnten wusste sie, dass Jakobs Schweigen keine Gleichgültigkeit gewesen war. Es war die Grausamkeit der Zeit, der Mauern, der Verräter.

Sie las die letzten Zeilen.

Vergib mir, dass ich dich nicht mehr halten konnte. Aber vielleicht hältst du nun diesen Brief, und darin meine Hand. Hör nicht auf, zu leben. Hör nicht auf, zu lieben. Und wenn du eines Tages an mich denkst, dann denk an Sommerabende und an den Tanz, den uns niemand nehmen konnte.

Clara legte den Brief nieder, Tränen rannen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Sie sah Jakobs Züge vor sich, sein Lächeln, das Versprechen in seinen Augen. Er war nicht verschwunden, weil er wollte. Er war verschwunden, weil man ihn ausgelöscht hatte. Doch seine Worte hatten überlebt.

Fero legte die Schnauze auf ihren Schoß, und Clara vergrub die Hand in seinem Fell. Sie spürte das Leben unter ihren Fingern, die Wärme, die Treue.

„Wir haben ihn gefunden“, flüsterte sie. „Sein Herz. Seine Stimme.“

Der Speicher war still. Nur der ferne Ruf einer Möwe drang durch die Ritzen. Clara stand langsam auf, den Brief fest in der Hand. Sie wusste, dass sie den Ort verlassen musste, dass er nicht für die Lebenden gebaut war. Doch sie ging mit dem Gefühl, etwas Kostbares zurückerobert zu haben.

In den Tagen danach blieb sie noch in Hamburg, las Jakobs Notizbuch Seite für Seite. Sie schrieb Passagen ab, damit sie nicht verloren gingen. Manches war unverständlich, Bruchstücke eines Lebens im Schatten, doch alles trug seine Handschrift, seine Gedanken, seine Sehnsucht.

Am letzten Abend ging sie an den Hafen. Der Wind war kalt, die Wellen schlugen dunkel gegen die Kaimauer. Clara stand da, hielt den Brief in den Händen und sprach leise, als stünde Jakob neben ihr.

„Ich habe dich gehört. Nach all den Jahren habe ich dich wiedergefunden. Nicht deinen Körper, aber dein Herz. Und das reicht.“

Sie faltete den Brief sorgfältig, legte ihn zurück in den Umschlag. Diesen würde sie behalten, so wie die Kette, das Foto, das Notizbuch. Sie waren nun ihr Erbe, Zeugnisse einer Liebe, die nicht einmal durch Verrat zerstört werden konnte.

Zurück in Diesdorf legte sie die Kiste mit den Briefen in ihre Stube, neben den alten Ofen. Sie ordnete alles, als wäre es eine kleine Ausstellung ihres Lebens. Und immer, wenn sie die Papiere berührte, fühlte sie Jakobs Nähe.

Fero blieb an ihrer Seite. Er wich ihr nicht von der Seite, als wüsste er, dass seine Aufgabe noch nicht beendet war. Sie sprach oft mit ihm, als spräche sie mit Jakob. Der Hund hörte still zu, manchmal mit schiefgelegtem Kopf, manchmal mit einem Blick, der ihr das Gefühl gab, verstanden zu werden.

Wochen später ging Clara wieder durch den verschneiten Wald, den Weg entlang, auf dem sie Fero gefunden hatte. Der Schnee knirschte, die Luft war klar. Sie blieb vor dem alten Schuppen stehen, der nun verlassen und still dalag. Dort hatte alles begonnen, dort hatte ein Hund sie zu den Stimmen im Schnee geführt.

Sie legte die Hand auf das alte Holz, schloss die Augen und atmete tief.

„Danke, Jakob“, flüsterte sie. „Und danke, Fero.“

Der Hund bellte leise, als hätte er verstanden.

Clara wusste, dass sie ihre Jugendliebe nie wiedersehen würde. Aber sie wusste auch, dass Liebe überleben konnte. In Briefen, in Erinnerungen, in einem Herz, das nach Jahrzehnten noch immer schlug.

Sie drehte sich um, ging langsam weiter. Der Schnee legte sich sanft auf ihre Schultern, der Himmel öffnete sich in einem matten Blau.

In ihrem Inneren war kein leeres Schweigen mehr. Da war eine Stimme, die sie begleiten würde, solange sie lebte.

Clara ging heimwärts, den Hund an ihrer Seite, den Brief an ihrer Brust. Und sie wusste, dass man die Vergangenheit nicht ändern konnte aber man konnte sie tragen, wie ein Licht, das selbst im tiefsten Winter nicht erlosch.

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