Stummes Mädchen, schmutziges Kleid: Die verstörende Zeichnung auf einem deutschen Rastplatz, die plötzlich alles veränderte

Das Mädchen konnte nicht älter als sechs oder sieben sein.

Ein verwaschenes rosa Kleid, das schon längst hätte gewaschen werden müssen. Strähniges Haar, verklebt, ungekämmte Zöpfe, die irgendwann einmal ordentlich gewesen sein mussten.

Aber es waren ihre Augen, die mich trafen. Verzweifelte, viel zu ernste Kinderaugen, die schrien, was ihre Stimme nicht sagen konnte.

Sie war schon zu drei Familien gegangen. Ich hatte gesehen, wie sie zu ihnen lief, an ihren Jacken zupfte, ihnen etwas zeigen wollte. Jedes Mal das Gleiche: Die Erwachsenen zogen ihre Kinder weg. Ein Vater stellte sich sogar schützend vor seinen Sohn, als wäre sie ansteckend.

Als sie auf mich zukam, hatte ich die Hand schon am Zündschlüssel meiner Maschine.

Ich hatte noch fast fünfhundert Kilometer vor mir. Die Kameraden warteten auf mich, wir wollten uns im Süden treffen, eine Benefizfahrt für ein Kinderhospiz.

Aber wie sie mich ansah – als wäre ich ihre letzte Hoffnung – ließ mich den Motor wieder abstellen.

Sie stand vor mir, barfuß, mit aufgeschürften Füßen, und hielt mir ein zerknittertes Blatt Papier hin. Ihre Finger zitterten.

Ich nahm es.

Es war eine Kinderzeichnung mit Wachsmalstiften. Ein kleines Haus. Bäume. Ein Schuppen. Ein Weg.

Und dahinter, bei den Bäumen, ein rotes Kreuz.

Über dem Kreuz stand in krakeligen Buchstaben: „MARA IST HIER“.

Darunter: „ER HAT SIE GESTERN NACHT EINGEGRABEN“.

Und am unteren Rand, enger geschrieben, fast als hätte die Hand vor Angst gezittert:

„ER SAGTE WENN ICH WAS SAGE KOMME ICH AUCH HIERHER“.

Ich spürte, wie mir der Atem stockte.


Ich heiße Karl. Zweiundsechzig. Dreißig Jahre Berufsfeuerwehr in einer mittelgroßen deutschen Stadt. Verkehrsunfälle, Wohnungsbrände, nächtliche Einsätze, Bilder, die man nie wieder ganz los wird.

Nach der Pensionierung hat sich ein Haufen von uns zusammengetan. Ehemalige Feuerwehrleute, ein paar Rettungssanitäter, ein, zwei ehemalige Soldaten. Wir nennen uns „Feuerkamm-Kameraden“. Ein eingetragener Verein, nichts Illegales. Wir fahren mit unseren Motorrädern und alten Einsatzfahrzeugen zu Festen, sammeln Spenden, besuchen Kinderstationen.

Ich hatte schon vieles gesehen. Aber auf diesen Rastplatz an der Bundesstraße an diesem grauen Nachmittag war ich nicht vorbereitet.

Der Rastplatz lag irgendwo zwischen Feldern und Wald, ein kleiner Parkplatz mit ein paar Tischen aus Beton, einem Spielgerät, einer Toilette, die dringend eine Grundreinigung gebraucht hätte. LKW-Fahrer hielten hier, ein paar Pendler, selten Familien.

Ich stand am Wasserhahn und füllte meine Flasche, als ich das Mädchen zum ersten Mal sah.

Sie ging von Auto zu Auto. Zog an Jacken. Hielt Menschen etwas hin. Kein Ton. Kein Wort. Nur ein stummes, verzweifeltes Bitten.

Eine Mutter mit zwei Kindern zog ihre Kleinen an sich, als das Mädchen näherkam. „Komm, wir gehen“, sagte sie leise, aber bestimmt, und steuerte zügig zum Auto, als wäre das Kind ein Problem, dem man aus dem Weg geht.

Das hätte mein erster Hinweis sein müssen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.

Das Mädchen blieb mitten auf dem Platz stehen. Die Schultern zuckten. Kein Laut, aber man sah, dass sie weinte.

In diesem Moment sah sie mich.

Ein alter Kerl in schwarzer Lederjacke, mit grauem Bart, vernarbten Händen, eine große Maschine neben sich. Die wenigsten Kinder rennen direkt auf mich zu.

Sie tat es.

Aus der Nähe sah ich die blauen Flecken an ihren Armen. Deutliche Fingerabdrücke. An der Lippe eine verheilte Platzwunde. Ihr Kleid war nicht nur schmutzig – es war offenbar seit Tagen das gleiche. Die nackten Füße voller kleiner Schnitte.

Sie streckte mir das Blatt entgegen. So, als wäre es das Wichtigste, das sie besaß.

Ich kniete mich hin, damit wir auf Augenhöhe waren. „Darf ich?“, fragte ich leise.

Sie nickte kaum merklich.

Ich entfaltete das Papier. Sah die Zeichnung. Das Haus. Die Bäume. Den Schuppen. Das rote Kreuz.

„MARA IST HIER.“

„ER HAT SIE GESTERN NACHT EINGEGRABEN.“

„ER SAGTE WENN ICH WAS SAGE KOMME ICH AUCH HIERHER.“

Mein Magen zog sich zusammen.

„Ist Mara deine Schwester?“, fragte ich.

Sie nickte.

Ich wollte fragen: „Ist sie…?“ – aber die Worte blieben mir im Hals stecken.

Das Mädchen führte langsam einen Finger über ihre eigene Kehle. Dann packte sie meine Hand mit überraschender Kraft, zeigte auf das Blatt, dann mit ausgestrecktem Arm die Straße hinunter. Dorthin, wo ich hergekommen war.

Fünf Kilometer zurück lag ein altes Anwesen, das ich im Vorbeifahren gesehen hatte. Ein leerstehender Hof, Fensterscheiben kaputt, das Tor schief in den Angeln. Bäume ringsum. Ein Schuppen auf der linken Seite.

Mir wurde kalt.

Ich zog mein Handy aus der Tasche. „Ich rufe die Polizei“, sagte ich automatisch.

In dem Moment klammerte sie sich an meinen Arm, schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Haar flog, und versuchte, mir das Handy aus der Hand zu reißen. Ihre Augen waren panisch.

„Was ist los?“, murmelte ich, mehr zu mir selbst.

Sie tippte mit dem Finger auf eine Ecke der Zeichnung, die ich vorher übersehen hatte. Dort, klein, ein Strichmännchen mit so etwas wie einer Mütze und einem kleinen gelben Rechteck an der Brust.

Ein Abzeichen. Eine Uniform.

In Kinderbuchstaben stand darunter: „POLIZEI“.

Der Mann, der Mara vergraben hatte – oder der Mann, vor dem sie solche Angst hatte – war in ihren Augen ein Polizist.

Oder gab sich als einer aus.

Das Mädchen kramte in ihrer kleinen Tasche. Zog ein Foto hervor, abgegriffen und mehrfach gefaltet.

Zwei Mädchen darauf, Arm in Arm. Eine war sie, schätzte ich. Die andere etwas älter, vielleicht acht oder neun. Beide lachend. Unbekümmert.

Schwestern. Vor dem Albtraum.

Ich sah zur Straße, zum Parkplatz, zu den wenigen Autos.

Dann traf ich eine Entscheidung.

Nicht wegen meiner Grundausbildung. Nicht wegen meiner Einsatzerfahrung. Sondern wegen der Art, wie dieses Kind meine Hand festhielt. Wie jemand, der schon zu vielen Türen gegangen war, die sich vor ihm geschlossen hatten.

Ich wählte nicht den Notruf.

Ich wählte Marius.

„Ja?“, brummte seine Stimme. Er war früher Gruppenführer bei der Feuerwehr, jetzt unser Vereinsvorsitzender.

„Marius, ich bin auf dem kleinen Rastplatz an der B… weißt du, der mit dem schiefen Tisch. Ich brauche dich und die anderen. Sofort. Frag nicht. Und bring alle mit, die in der Nähe sind.“

Er schwieg kurz. „Karl, was ist los?“

Ich sah das Mädchen an. Ihre Hände zitterten, aber in ihrem Blick lag ein Funken Hoffnung.

„Lange Geschichte“, sagte ich. „Es geht um ein Kind. Und vielleicht um Schlimmeres.“


Zwanzig Minuten später hörte man sie, bevor man sie sah.

Motorengeräusche. Mehrere. Dann bogen ein alter Transporter, zwei Motorräder und ein Kombi auf den Rastplatz ein. Auf den Türen des Transporters unser Vereinslogo – eine stilisierte Flamme mit einem Schraubenschlüssel.

Marius stieg aus, groß, kräftig, wie immer in einer alten Einsatzjacke. Hinter ihm Jana, ehemalige Notfallsanitäterin. Zwei andere Kameraden, ein weiterer Rentner mit Motorradhelm in der Hand.

Die paar Leute, die noch am Rastplatz standen, schauten kurz, entschieden, dass ihnen das zu viel wurde, und fuhren weg.

Ich zeigte Marius die Zeichnung.

Sein Gesicht, sonst freundlich, wurde hart.

„Jana“, sagte er nur.

Sie kniete sich neben das Mädchen. „Ich bin Jana“, sagte sie sanft. „Darf ich mal deine Arme anschauen?“

Das Kind ließ es zu. Jana hob vorsichtig die Ärmel, betrachtete die blauen Flecken. Schaute in den Mundwinkel. Legte behutsam eine Hand an den Hals, aber nur ganz kurz, um nichts zu verschlimmern.

Ihr Blick sagte alles.

„Das sind nicht von einmal“, murmelte sie. „Unterschiedliche Stadien. Alt und neu. Sie ist seit längerem in Gefahr.“

„Rufen wir jetzt die Polizei?“, fragte Stefan, der Älteste von uns.

Ich zeigte ihm das Strichmännchen mit dem Schild. „Wenn sie recht hat, ist ausgerechnet ein Polizist das Problem“, sagte ich leise. „Oder jemand, der sich als einer ausgibt.“

Marius dachte kurz nach. „Wir rufen trotzdem“, sagte er. „Aber nicht nur eine Streife. Wir brauchen jemanden, der das ernst nimmt.“

Er wählte den Notruf. Sprach ruhig, sachlich. Sagte, hier sei ein Mädchen mit Verdacht auf schwere Misshandlung, eine Zeichnung mit einem möglichen Grab. Nannte unsere Namen, unseren Hintergrund, sagte, dass wir vor Ort bleiben und auf die Polizei warten.

Dann beendete er das Gespräch.

„Die schicken jemanden“, murmelte er. „Aber das kann dauern.“

Das Mädchen klammerte sich in der Zwischenzeit an meine Jacke. Ich zeigte auf die Straße, dann auf die Zeichnung, dann wieder auf die Straße.

„Das Haus ist dort hinten, oder?“, fragte ich.

Sie nickte.

„Karl“, sagte Marius warnend. „Wir sollten auf die Polizei warten.“

Ich schaute auf das Kind. Auf ihre nackten Füße. Auf das Kreuz auf der Zeichnung.

„Wenn da noch jemand ist, haben wir vielleicht keine Zeit“, antwortete ich.

Das Mädchen machte wieder die Geste an der Kehle, hielt dann einen Finger hoch. Dann zeigte sie auf ihren Arm, als würde sie auf eine Uhr deuten.

„Er kommt wieder? Heute?“, fragte ich.

Sie nickte wild.

„Um eins? Um elf? In einer Stunde?“ Ich stotterte fast.

Sie zog vorsichtig mein Handgelenk zu sich, sah auf meine Uhr, tippte auf die elf.

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