Stummes Mädchen, schmutziges Kleid: Die verstörende Zeichnung auf einem deutschen Rastplatz, die plötzlich alles veränderte

Es war zehn Uhr fünfzehn.

„In etwa einer Stunde“, sagte ich leise.

Marius fluchte. Nicht laut, aber heftig. „Gut“, sagte er dann. „Wir teilen uns auf. Jana bleibt mit dem Mädchen hier, falls die Polizei zuerst hier ist. Ihr erzählt ihnen alles. Karl, du kommst mit mir. Stefan, du auch. Wir fahren zum Hof, halten Abstand. Wir fassen nichts an. Wir schauen nur, ob da wirklich etwas ist. Wenn wir ein Grab sehen, warten wir, bis die Polizei eintrifft.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf, als sie sah, dass wir ohne sie gehen wollten. Sie klammerte sich an meine Jacke, als wolle sie sagen: Ohne mich findet ihr es nicht.

„Lass sie mitfahren“, sagte Jana. „Sie vertraut dir. Und wenn es gefährlich wird, bleibt sie im Auto.“

Marius zögerte. Dann nickte er.

Wir setzten das Mädchen in den Kombi. Jana drückte ihr sanft die Hand. „Wenn irgendetwas ist, schreist du, so gut du kannst, ja?“, sagte sie, auch wenn wir wussten, dass die Kleine kaum einen Laut herausbekam.

Wir fuhren los.


Der Hof lag genau da, wo ich ihn in Erinnerung hatte. Ein verfallenes Wohnhaus, Scheiben eingeschlagen, das Dach halb kaputt. Dahinter ein Schuppen, schief, das Holz grau und morsch. Hohe Bäume rundherum.

Wir stellten den Kombi ein Stück entfernt ab, so dass man ihn von der Straße aus kaum sehen konnte.

Das Mädchen – auf dem Rücksitz zwischen uns – pochte plötzlich mit der Hand gegen die Scheibe und zeigte auf den hinteren Bereich des Grundstücks.

„Da“, murmelte ich. „Hinter dem Schuppen.“

Wir stiegen aus. Ich nahm sie auf den Arm, obwohl mein Rücken protestierte. Sie war leicht, viel zu leicht.

Hinter dem Schuppen blieb ich stehen.

Der Boden war aufgewühlt. Frische Erde. Ein etwa zwei Meter langer, schmaler Streifen, sorgfältig glatt gestrichen, aber man sah noch die Spuren der Schaufel.

Stefan schluckte hörbar. „Wir fassen nichts an“, sagte er heiser.

Das Mädchen streckte die Hand aus, als wolle sie die Erde berühren, hielt dann aber inne. Ihre kleine Brust hob und senkte sich schnell, ihr Gesicht war verzerrt, aber sie brachte keinen Ton hervor.

„Wir gehen zurück zum Auto“, sagte Marius leise. „Wir warten auf die Polizei. Und wenn dieser… Mann hier auftaucht, dann verhindern wir, dass er noch jemanden verletzt.“

In diesem Moment hörten wir einen Motor.

Ein Auto kam die schmale Zufahrt entlang. Ein unauffälliger, grauer Wagen. Auf dem Armaturenbrett sah ich von weitem eine kleine blaue Leuchte liegen, wie man sie bei Zivilstreifen benutzt.

Das Mädchen spannte sich in meinen Armen an wie ein Brett. Sie zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das Auto, dann auf die Zeichnung, die ich in der Jackentasche hatte, und nickte hektisch.

„Das ist er“, flüsterte Stefan.

„Zurück hinter den Schuppen“, zischte Marius. „Karl, nimm die Kleine mit. Stefan, bereit halten, falls er eine Waffe zieht. Wir greifen nicht an, wir verteidigen uns nur.“

Wir duckten uns hinter das morsche Holz. Ich spürte den Herzschlag des Mädchens an meiner Brust, viel zu schnell.

Der Wagen hielt. Eine Tür schlug zu.

„Lena!“, rief eine Männerstimme. „Lena, wo bist du?“

Lena. Endlich ein Name für das stumme Mädchen.

Die Stimme klang warm, fast freundlich. So, wie man mit einem verirrten Kind redet.

„Lena, komm raus, Schatz. Alle suchen dich. Du machst uns Sorgen.“

Schritte im Gras. Er ging in Richtung Schuppen.

Lena wand sich in meinen Armen. Sie wollte runter. Ich ließ sie langsam auf den Boden. Sie trat vor, nicht direkt, aber so, dass er sie sehen konnte, zwischen Schuppen und Haus.

„Da bist du ja“, sagte der Mann, als er sie sah. Er trug eine Jeans, eine dunkle Jacke. An der Seite ein Holster. An der Brust ein Ausweis, den ich nicht lesen konnte, aber das Abzeichen war eindeutig.

„Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe“, fuhr er fort. „Du kannst doch nicht einfach von zu Hause weglaufen. Dein Pflegevater macht sich große Sorgen.“

Pflegevater.

Er ging weiter auf sie zu, die Arme leicht geöffnet, ein geübtes Lächeln im Gesicht. Aber seine Augen waren kühl.

Lena wich zurück. Schritt für Schritt. Genau in unsere Richtung.

„Komm, wir fahren nach Hause“, sagte er. „Du weißt doch, dass dich niemand sonst will. Das Jugendamt war kurz davor, dich irgendwohin zu stecken, wo es keinem gut geht. Bei mir hast du es gut, ja?“

Bei den letzten Worten flackerte etwas in seinem Gesicht. Ungeduld. Ärger.

Als er um den Schuppen bog, sah er uns.

Drei ältere Männer. Einer mit Motorradjacke, einer mit Feuerwehrjacke, einer mit verschränkten Armen. Und Lena direkt vor uns.

Sein Lächeln erstarb.

„Was machen Sie hier?“, fragte er scharf. „Das ist ein abgesperrtes Gelände.“

„Das ist interessant“, sagte Marius ruhig. „Wir haben nirgendwo ein Schild gesehen.“

Der Mann warf einen schnellen Blick über unsere Schultern. Sah die frisch umgegrabene Erde.

Die Maske fiel.

Sein Gesicht wurde hart. „Lena“, zischte er. „Was hast du getan?“

Er griff zur Waffe.

Stefan war schneller als ich ihm zugetraut hätte. Er war früher Ausbilder für Atemschutzgeräteträger gewesen, stark wie ein Bär. Er sprang nach vorne, packte den Mann am Handgelenk, drehte es zur Seite. Die Pistole fiel ins Gras.

Ich trat einen Schritt nach vorne, stellte mich dazwischen.

„Bleiben Sie liegen“, sagte Marius leise, aber sehr bestimmt. „Die Polizei ist unterwegs.“

„Ich bin die Polizei!“, fauchte der Mann. „Ich bin Oberkommissar. Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen. Sie entführen ein Kind, behindern einen Einsatz, greifen eine Polizeibeamtin an –“

„Polizeibeamten“, korrigierte Stefan mit trockenem Humor, ohne die Hand vom Handgelenk des Mannes zu nehmen.

Lena stand daneben. Ihre Hände zitterten, aber sie wich nicht zurück. Sie sah ihn an – diesen Mann, der draußen so freundlich klang – mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen werde. Nicht Hass. Nicht nur Angst. Sondern etwas Tieferes. Verrat.

„Sie sagen also, Sie sind ihr Pflegevater?“, fragte Marius.

„Ja!“, schnappte er. „Sie ist psychisch auffällig. Erfindet Geschichten. Malträtierte Tiere, tote Geschwister – alles Fantasie. Das Jugendamt weiß das.“

Ich zog das Blatt aus meiner Tasche und klappte es auf.

„Hat sie das auch erfunden?“, fragte ich ruhig. „Das hier?“

Er sah die Zeichnung. Für einen Moment war sein Gesicht komplett leer.

Dann wandte er den Blick ab.

„Kinder malen eben“, murmelte er. „Das ist kein Beweis für irgendetwas.“

„Wir fassen Sie nicht an“, sagte Marius. „Wir schlagen Sie nicht. Wir halten Sie nur fern von ihr. Und wenn die Kollegen kommen, können Sie ihnen alles erklären.“

Er versuchte sich loszureißen. Stefan verstärkte den Griff. „Ich würde es lassen“, sagte er. „Mein Rücken ist alt, aber meine Hände wissen noch genau, wie man jemanden fixiert, ohne blaue Flecken zu hinterlassen.“

Lena trat einen Schritt näher an den Mann heran.

Sie sagte kein Wort. Konnte es vielleicht auch nicht. Aber sie spuckte ihm ins Gesicht.

Ein kleines Mädchen, barfuß, im schmutzigen Kleid, mit einer stummen Wut, die größer war als sie selbst.

Dann drehte sie sich um, ging zur Erde hinter dem Schuppen, kniete sich hin und legte ihre Hand auf die Stelle, an der die Erde frisch war.

Ihr Körper begann zu zittern. Und dann, ganz plötzlich, brach ein Laut aus ihr heraus.

Keine klaren Worte. Mehr ein heiserer, gebrochener Schrei. Ein Ton, der irgendwo tief aus ihrer Brust kam. Es war, als würde ein Damm brechen.

Ich habe Menschen schreien hören, wenn das Haus brennt, wenn ein Kind verletzt ist, wenn man begreift, dass ein geliebter Mensch nicht mehr atmet.

Aber dieser Laut war anders.

Es war der Laut eines Kindes, das zum ersten Mal wirklich weinen darf.


Die uniformierte Polizei kam etwa zwanzig Minuten später. Zwei Streifenwagen, kurz darauf noch ein dritter. Ein Wagen vom Kriminaldauerdienst. Später auch jemand vom Jugendamt.

Der Oberkommissar, dessen Namen ich hier nicht ausschreibe, wurde von seinen eigenen Kolleginnen und Kollegen in Handschellen gelegt. Er redete von Missverständnissen, von einem „Übergriff eines Motorradclubs“, von einer „verwirrten Kleinen“.

Dann sahen sie die Zeichnung.

Dann sahen sie die Erde.

Dann sahen sie die blauen Flecken an Lenas Armen und den zarten, schief verheilten Streifen an ihrem Hals.

Der Ton auf dem Parkplatz änderte sich.

Niemand schrie. Niemand drohte ihm offen. Aber die Gesichter der Beamtinnen und Beamten verhärteten sich.

Man sperrte das Gelände ab, rief die Spurensicherung. Der Bereich hinter dem Schuppen wurde vorsichtig geöffnet. Niemand von uns durfte in der Nähe bleiben, und das war auch richtig.

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