Stummes Mädchen, schmutziges Kleid: Die verstörende Zeichnung auf einem deutschen Rastplatz, die plötzlich alles veränderte

Jana kam mit einem Einsatzwagen an und kümmerte sich um Lena, als die ersten Sanitäter eintrafen. Das Mädchen ließ sie an sich heran, ließ sich eine Jacke umlegen, ließ sich Blutdruck messen, ließ sich in den Rettungswagen führen.

Später erfuhren wir, dass das, was wir geahnt hatten, stimmte.

Mara, ihre ältere Schwester, hatte nicht überlebt.

Man sprach von „schweren Verletzungen“. Mehr musste ich nicht wissen.

Die Ermittlungen dauerten Monate. Es stellte sich heraus, dass es schon lange Hinweise gegeben hatte, die niemand richtig ernst genommen hatte. Die Akten lagen beim Jugendamt und bei der Polizei. Überlastete Mitarbeitende, viele Fälle, Missverständnisse – es war ein tragisches Versagen mehrerer Stellen.

Aber es war auch ein Mann, der seine Stellung ausgenutzt hatte, um diejenigen zu verletzen, die ihm anvertraut worden waren.

Lena war dazwischen geraten.

Und eines Tages hatte sie sich ein Blatt Papier und Wachsmalstifte genommen. Und alles aufgemalt, was sie nicht sagen konnte.


Ein Jahr später saß ich in einem Gerichtssaal.

Der ehemalige Oberkommissar stand vorne, neben seinem Anwalt. Lena saß weiter hinten, zwischen Marius und dessen Frau Sabine. Sie hielt Sabines Hand, auf der anderen Seite saß eine Betreuerin. Vor ihr lag ein Block, darauf kritzelte sie Strichmännchen.

Sie hatte inzwischen gelernt, sich mit Gebärden zu verständigen. Und mit Zeichnungen. Vieles war ihr immer noch schwer, aber sie machte Fortschritte.

Ein Sachverständiger hatte bestätigt, dass ihre Stimmbänder und ihre Luftröhre beschädigt waren. Ob durch Gewalt oder einen alten medizinischen Eingriff, darüber stritt man. Fakt war: Sie konnte nur sehr leise, brüchige Laute von sich geben. Keine ganzen Sätze. Wahrscheinlich nie.

Aber als sie nach vorne gebeten wurde, um auszusagen – auf ihre Art – stand sie auf.

Sie stellte sich auf den Stuhl, damit man sie sehen konnte. Die Richterin sprach langsam und leicht: „Lena, wenn du mir zeigen möchtest, was passiert ist, kannst du das mit deinen Händen tun. Und deine Betreuerin übersetzt es für uns, ja?“

Lena nickte.

Sie erzählte ihr ganzes Leben in Bewegungen.

Wie sie zu diesem Mann gekommen war. Wie er nach außen freundlich und hilfsbereit gewesen war. Wie Mara sie geschützt hatte, so gut sie konnte. Wie irgendwann alles eskalierte.

Wie er eines Nachts mit Mara aus dem Haus ging und ohne sie zurückkam.

Wie er ihr drohte, dass sie „dort landet, wo Mara jetzt ist“, wenn sie jemals etwas sagt.

Wie sie irgendwann die Zeichnung machte.

Wie niemand auf sie hörte.

Bis ein alter Mann an einem Rastplatz den Motor seines Motorrads nicht startete.

Die Richterin hörte zu. Die Staatsanwältin auch. Die Verteidigung stellte Fragen, vorsichtig, weil niemand den Eindruck erwecken wollte, dieses Kind zu bedrängen.

Aber Lenas Geschichte stand im Raum. Deutlicher als jedes Protokoll.

Der Mann wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen Mordes und weiterer schwerer Taten. Der Name des Jugendamtes und der beteiligten Dienststellen tauchte in den Medien auf, aber die meisten Berichte blieben nüchtern, forderten Verbesserungen, keine Hetze.

Lena brauchte kein Urteil, um zu wissen, was wahr war. Aber es tat ihr sichtbar gut, dass endlich jemand zuhörte.


Marius und Sabine hatten Lena inzwischen bei sich aufgenommen.

Am Anfang war das Jugendamt skeptisch. „Ehemaliger Feuerwehrmann, Motorradfahrer, Vorsitzender eines Vereins?“, hatte jemand gesagt. Man hatte Bilder im Kopf. Klischees.

Marius hatte ruhig alles erklärt. Die Arbeit des Vereins, die Spendenfahrten, die Besuche auf Kinderstationen, seine sauberen Führungszeugnisse. Sabine erzählte von ihrer Arbeit als Erzieherin in einem Kindergarten, von ihren Fortbildungen zu Traumapädagogik.

Lena hatte den Rest getan.

Sie hatte sich vor die Sachbearbeiterin gestellt, die Hände vor der Brust zu einem Kreis geformt – dem Gebärdenzeichen, das sie für „Familie“ gelernt hatte – und dann auf Marius und Sabine gezeigt.

Am Ende durfte sie bleiben.

Heute ist Lena elf.

Sie lebt in einer kleinen Stadt, in einem Haus mit einem Apfelbaum im Garten und einem Zimmer voller Stifte und Papier. Sie fährt jeden Morgen mit dem Bus zur Schule. Sie hat eine Schulbegleiterin, die Gebärdensprache kann. Ihre Noten sind gut. Besonders in Kunst.

Wenn unser Verein eine Ausfahrt macht, sitzt Lena auf einem kleinen, leisen Elektromotorrad, das Marius für sie besorgt hat. Sie trägt eine eigene Schutzkleidung, einen bunten Helm, und über ihrer Jacke eine kleine Weste mit einem Aufnäher:

„Feuerkamm-Kameraden – Kleine Schwester“.

Sie zeichnet heute andere Dinge.

Motorräder. Feuerwehrfahrzeuge. Marius, wie er Holz hackt. Sabine, wie sie ihr die Haare flechtet. Den Hund, den sie aus dem Tierheim adoptiert haben.

Manchmal aber zeichnet sie auch Mara.

Nicht als Opfer. Sondern wie auf dem alten Foto: lachend, mit wehenden Zöpfen, barfuß im Gras.

Vor einigen Monaten hat Lena mir eine Zeichnung geschenkt.

Vierzehn Motorräder und zwei alte Einsatzfahrzeuge stehen im Kreis. Dazwischen zwei Mädchen. Die eine liegt auf der Erde, um sie herum sind Blumen. Die andere steht daneben und hat Flügel.

Unten steht in krakeliger Schrift, deutlich mühsam, aber lesbar:

„DANKE DASS IHR MIR GLAUBT HABT ALS ICH NICHT REDEN KONNTE“.

Ich habe dieses Bild eingerahmt.

Es hängt im Wohnzimmer, neben meinem alten Foto mit meiner Feuerwehrgruppe, neben dem Bild meiner verstorbenen Frau. Dinge, die zählen.

Manchmal fragen Nachbarn, warum ich mir das antue – mich mit so schweren Geschichten zu beschäftigen, mit Dingen, die man auch verdrängen könnte.

Dann denke ich an diesen Rastplatz an der Bundesstraße. An einen Moment, in dem ich dachte, ich hätte „Wichtigeres“ zu tun. Kilometer zu fahren. Termine einzuhalten.

Und daran, dass ich in Wahrheit genau da war, wo ich sein musste.


Die „Feuerkamm-Kameraden“ halten heute noch manchmal an diesem kleinen Rastplatz.

Wir werfen Müll weg, den andere liegen lassen. Reparieren die wackelnde Bank. Manchmal stellen wir eine Kerze auf, nur für uns. Nicht für die Öffentlichkeit.

Wenn Familien dort halten, lächeln wir freundlich. Die meisten wissen nichts von der Geschichte. Müssen sie auch nicht.

Aber wir wissen, dass es Orte gibt, an denen man hinschauen muss.

Und Menschen.

Wenn ich eins gelernt habe aus dieser Geschichte, dann das:

Manchmal kommen Engel nicht mit weißen Flügeln.

Manchmal tragen sie ein viel zu kleines, verschmutztes rosa Kleid.

Sie können nicht sprechen. Sie können vielleicht kaum schreien.

Aber sie haben einen Wachsmalstift, ein Blatt Papier – und den Mut, immer wieder damit loszulaufen, bis jemand hinschaut.

An diesem Tag waren wir diejenigen, die hingeschaut haben.

Und jedes Mal, wenn wir mit unseren Maschinen losfahren und Lenas kleines Elektrobike in der Mitte rollt, denke ich:

Man muss nicht laut reden können, um gehört zu werden.

Manchmal reichen ein Stift, ein Blick – und ein alter Mann, der seinen Motor nicht startet.

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