Um 3:17 klopften meine Nichten: Wieder ausgesperrt und ich handelte

„Mara, bitte… uns ist so kalt.“

Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern durch meine Wohnungstür, aber sie traf mich wie ein Eimer Eiswasser. Ich riss das Handy vom Nachttisch. 03:17 Uhr glomm im Dunkeln.

Noch bevor ich ganz wach war, hämmerte mein Herz, und ich stolperte aus dem Bett, blieb mit dem Fuß an der Ecke des Couchtischs hängen und fluchte leise.

Durch den Spion sah ich sie: drei kleine Gestalten, eng aneinandergepresst im trüben Licht des Hausflurs. Ich riss die Tür so schnell auf, dass sie gegen die Wand schlug.

„Jonas? Was um Himmels willen…?“

Mein Neffe stand da und zitterte so heftig, dass sein dünnes Schlafanzugoberteil an seiner Brust klebte, als hätte er geschwitzt – trotz der bitteren Februarkälte.

Hinter ihm hielt Lena die Hände ihres kleinen Bruders Ben so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß waren. Keine Jacken, keine Schuhe. Nur Socken mit Comicfiguren, inzwischen grau, dünngelaufen und an den Fersen ausgefranst.

„Wo sind eure Eltern?“ Meine Stimme klang schärfer, als ich wollte. „Es ist mitten in der Nacht.“

Jonas schluckte. Er war zwölf, und er tat so, als wäre das alles irgendwie… normal. Als wäre es seine Aufgabe, mich zu beruhigen.

„Sie haben uns ausgesperrt“, sagte er. Dabei brach seine Stimme. „Wir wussten nicht, wohin sonst, Tante Mara. Wir sind gelaufen. Es hat… es hat ewig gedauert.“

Mir wurde übel.

„Ihr seid gelaufen?“ Ich merkte, wie mir die Hände anfingen zu zittern. „Jonas, es sind minus acht Grad draußen! Wie weit denn?“

Lena klapperte so mit den Zähnen, dass sie die Worte kaum herausbekam. „Von… von zuhause.“

Sechs Kilometer. Sie waren sechs Kilometer durch die Nacht gelaufen. Im Schlafanzug. Im Winter.

Ich zog sie hinein, als würde jemand versuchen, sie mir gleich wieder aus den Armen zu reißen. „Rein. Sofort rein.“ Ich knallte die Tür zu, drehte den Thermostat auf Anschlag, als könnte Wärme die Zeit zurückdrehen.

Jonas’ Lippen hatten einen bläulichen Rand. Ben weinte nicht einmal mehr – er starrte nur ins Leere, mit diesem stummen, verängstigten Blick, den kein Sechsjähriger haben sollte.

„Decken“, murmelte ich und rannte ins Schlafzimmer. Ich riss den Schrank auf, zog alles heraus, was nach Stoff aussah: Wolldecken, eine alte Steppdecke, das flauschige Plaid, das ich sonst auf dem Sofa liegen hatte. „Und eure Füße… mein Gott, eure Füße.“

Als ich mich hinkniete, schoss mir Wut in die Kehle, so stark, dass ich kurz nichts sagen konnte. Die Socken klebten stellenweise an der Haut. Lenas linker Fuß war knallrot, als hätte man ihn verbrannt, und ich wusste sofort: Das würde Blasen geben. Bens Zehen waren an manchen Stellen unheimlich hell, fast wächsern.

„Okay“, sagte ich, zu ruhig, zu kontrolliert, weil ich sonst geschrien hätte. „Ihr setzt euch. Langsam. Nicht rubbeln, ja? Ich hol euch warme Tücher.“

Ich wickelte Ben in die beheizte Decke, setzte ihn in den Sessel, drückte seine kleinen Hände zwischen meine. Lena bekam eine Wärmflasche an die Füße, Jonas zwei Decken um die Schultern. Ich ging in die Küche, stellte Wasser auf, griff nach Tassen, nach Kakao, nach Honig – meine Bewegungen waren hektisch, aber mein Kopf war messerscharf.

„Erzählt mir genau, was passiert ist“, sagte ich, als ich wieder im Wohnzimmer war. „Von Anfang an.“

Jonas sank auf mein Sofa, und die Geschichte kam stoßweise, in abgehackten Sätzen, als müsse er jedes Wort erst aus sich herauszerren.

Sie hatten abends noch im Hof gespielt. „Nur kurz“, sagte Jonas, „weil Ben nicht einschlafen konnte.“ Dann waren sie hochgelaufen und die Tür war zu. Von innen abgeschlossen. Sie hatten geklopft. Geklingelt. Erst leise, dann lauter, dann so, dass Jonas’ Knöchel weh taten.

„Zwanzig Minuten“, sagte er. „Vielleicht länger. Ich hab auf dem Handy geguckt, aber der Akku war fast leer.“

„Habt ihr gerufen?“

Lena nickte, ihre Augen groß. „Ich hab ‚Mama‘ gerufen. Aber niemand hat geantwortet.“

„Und dann?“ Ich hörte mich selbst sprechen, als wäre ich weit weg.

Jonas schaute auf seine Hände, als würden sie ihm nicht gehören. „Dann… dann hab ich gesagt, wir gehen zu dir. Weil… weil du die Einzige bist, die immer aufmacht.“

Das traf mich wie ein Schlag. Nicht, weil es schmeichelhaft war. Sondern weil es so viel über alles sagte.

„Ben konnte irgendwann nicht mehr“, flüsterte Lena. „Seine Füße haben wehgetan. Ich hab ihn getragen. Auf dem Rücken… die letzte Strecke.“

Ich sah Ben an, wie er im Sessel zusammengerollt war, als würde er sich klein machen wollen, unsichtbar, damit niemand ihn wieder vergisst.

Und da begriff ich, mit einer Kälte, die nichts mit dem Winter zu tun hatte: Das war nicht das erste Mal. Es war nur das erste Mal, dass sie zu mir gekommen waren.

Ich stellte den Kakao hin. Die Kinder tranken mit zitternden Händen, als wäre warme Flüssigkeit ein Versprechen. Als wäre es ein Beweis, dass die Welt nicht immer so war, wie sie sie kannten.

Ich war dreiunddreißig, arbeitete als Schulberaterin an einer Gesamtschule, und ich hatte in den letzten Jahren genug Gespräche geführt, genug Zeichen gesehen, genug Akten gelesen, um zu wissen, wie „Krise“ aussah. Ich war geschult darin, Gefährdung zu erkennen. Ich war geschult darin, nicht wegzusehen.

Und doch hatte ich – bei meinem eigenen Bruder – genau das getan.

„Ist das schon mal passiert?“ fragte ich Jonas leise, als Lena endlich nicht mehr weinte und Ben vor Erschöpfung eingeschlafen war, die Decke bis über die Nase gezogen.

Jonas’ Blick glitt kurz zu Lena, dann wieder in seine Tasse. „Kommt drauf an, was du meinst.“

„Ausgesperrt sein.“

Er wählte die Worte zu sorgfältig – viel zu sorgfältig für ein Kind. „Nicht immer so. Aber… manchmal vergessen sie uns. Also… sie gehen weg und sagen nichts. Oder sie schließen ab, wenn sie schlafen gehen, und wir sind noch draußen. Oder…“

„Oder was?“

Seine Stimme wurde ganz klein. „Oder sie kommen nicht heim, wenn sie sagen, dass sie heimkommen. Dann… dann müssen wir das irgendwie hinkriegen.“

Lena zog die Knie an die Brust. „Jonas macht oft Abendessen. Mama sagt, Kochen ist nervig. Papa arbeitet lange. Jonas kann Nudeln machen. Oder Toast. Oder Frühstück abends.“

„Manchmal ist es nur Müsli“, sagte Jonas schnell, als wäre das seine Schuld. „Aber Ben kriegt immer was. Immer.“

Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig. „Wie oft seid ihr allein?“

Sie sahen sich an, dieses stumme Kinder-Abkommen, bei dem ganze Wahrheiten in Blicken verhandelt werden.

„Meistens“, sagte Jonas schließlich. „Papa ist oft bis acht oder neun unterwegs. Und Mama…“ Er machte eine kleine Bewegung mit der Schulter. „Sie geht weg.“

„Dienstags ist irgendwas mit Freundinnen“, ergänzte Lena. „Donnerstags auch. Und manchmal ist sie am Wochenende weg.“

Ich spürte, wie in meiner Brust etwas aufbrach, das ich jahrelang zusammengehalten hatte, damit es nicht weh tat.

Ich rief Tobias an – meinen Bruder. Einmal. Zweimal. Fünfmal. Mailbox. Ich rief Katrin an – seine Frau. Mailbox. Ich rief das Festnetz an. Es klingelte, klingelte, als würde das Haus selbst niemanden mehr erwarten.

Draußen wurde es langsam heller, dieses graue, frühe Winterlicht, das alles noch trostloser macht. In meinem Wohnzimmer saßen drei Kinder mit vielleicht beginnender Erfrierung, und ihre Eltern waren nicht erreichbar.

Ich wusste, was das bedeutete. Ich wusste, was ich tun musste.

Und trotzdem stand ich in meiner Küche, die Tür leise angelehnt, und starrte auf mein Handy, als wäre es ein Fremdkörper. Mein Daumen schwebte über dem Bildschirm.

Wenn ich jetzt anrief, gab es kein Zurück. Dann war ich nicht mehr die Tante, die „hilft“. Dann war ich diejenige, die eine Maschine in Bewegung setzt, die sich nicht mehr stoppen lässt.

Aber als ich die Augen schloss, sah ich Bens wächserne Zehen. Lenas roten Fuß. Jonas’ Blick – alt, müde, viel zu erwachsen.

Ich wählte den Notdienst.

Die Stimme am anderen Ende war ruhig, routiniert, als hätte sie diese Sätze schon tausendmal gehört. Ich erklärte, was passiert war. Dass drei Kinder nachts in der Kälte gelaufen waren. Dass niemand ans Telefon ging. Dass ich Angst hatte, dass das nicht „ein Versehen“ war, sondern ein Muster.

Ich sagte auch, wer ich war. Dass ich in einer Schule arbeite. Dass ich es besser hätte wissen müssen.

„Bleiben Sie bei den Kindern“, sagte die Frau. „Lassen Sie sie nicht zurückgehen. Es kommt jemand.“

Ich legte auf und lehnte mich mit beiden Händen an die Arbeitsplatte. Meine Knie zitterten. Nicht aus Angst vor dem Amt. Nicht aus Angst vor meinem Bruder.

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