Aus Angst, dass ich viel zu lange gehofft hatte, es würde von allein besser werden.
Als ich die Küchentür öffnete, stand Jonas im Flur. Er musste alles gehört haben.
„Nehmen die uns weg?“ fragte er.
Ich kniete mich hin, damit wir auf Augenhöhe waren. „Ich weiß es nicht, Schatz. Aber ich verspreche dir eins: Ich werde alles tun, damit ihr zusammenbleibt. Und damit ihr sicher seid.“
„Papa wird so wütend“, flüsterte er.
„Ja“, sagte ich ehrlich. „Wahrscheinlich.“
Er sah mich an, als würde er abwägen, ob Erwachsene wirklich meinen, was sie sagen.
Dann fiel er mir um den Hals. Ich spürte, wie dünn er war. Wie viel Spannung in diesen kleinen Schultern steckte, als würde er jeden Moment bereit sein, etwas Schlimmes abzufangen.
„Danke“, flüsterte er. „Danke, dass du uns nicht zurückgeschickt hast.“
Und erst da fing ich an zu weinen.
Es klingelte kurz vor sechs. Eine Frau vom Jugendamt, Mitte fünfzig, graue Strähnen im Haar, ein Blick, der schon zu viel gesehen hatte – und ein Polizist, der sich so unauffällig wie möglich in den Hintergrund hielt, aber trotzdem alles wahrnahm.
Die Frau stellte sich als Frau Krüger vor. Ihre Stimme war freundlich, aber fest, wie eine warme Decke, die zugleich ein Rahmen ist.
Sie sprach erst mit den Kindern, ganz ruhig. Bat sie, die Füße zu zeigen. Schaute genau hin, machte Notizen. Fragte, ob sie Hunger hätten. Durst. Ob irgendwas wehtat.
Ben schluchzte plötzlich im Schlaf und murmelte etwas von seinem Kuscheltier – einem Elefanten, der noch zuhause war. Frau Krüger nickte nur, als hätte sie diese Sehnsucht schon oft gehört.
Dann zog sie mich beiseite. „Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Nicht nur heute.“
Also erzählte ich. Von den immer leerer werdenden Vorräten, wenn ich zu Besuch war. Von Jonas’ Art, ständig alles im Blick zu behalten, als wäre er der Erwachsene. Von Tobias’ Sprüchen über „Selbstständigkeit“, die sich anfühlten wie eine schöne Verpackung für etwas Hässliches.
Von dem Tag, an dem ich unangekündigt geklingelt hatte und Jonas alleine in der Küche stand, verzweifelt vor der Waschmaschine, weil „nichts mehr sauber“ war.
Von Elternabenden, zu denen nie jemand kam. Von Lenas Lehrerin, die irgendwann „zufällig“ extra Brote in den Ranzen gelegt hatte.
Frau Krüger sah mich lange an. Kein Vorwurf. Eher etwas wie: Sie sind jetzt hier. Das zählt.
„Ich muss die Kinder getrennt sprechen“, sagte sie. „Und dann müssen wir in die Wohnung der Eltern. Im Moment sind die noch nicht erreichbar.“
Jonas ging zuerst mit ihr ins Schlafzimmer. Als er zurückkam, waren seine Augen rot, aber trocken – als hätte er irgendwo unterwegs alle Tränen verbraucht.
Lena war schneller fertig. Sie war neun, und sie sagte Dinge in klaren Sätzen, ohne Ausflüchte. Ben flüsterte nur, hielt seinen Kakao wie einen Anker in beiden Händen.
Als Frau Krüger wieder bei mir auf dem Sofa saß, tippte sie mehrere Minuten auf einem Tablet. Dann sah sie auf.
„Ich nehme die Kinder vorläufig in Obhut“, sagte sie ruhig. „Sie können heute nicht zurück. Sie sind in akuter Gefahr gewesen.“
Mein Mund war trocken. „Und… was passiert jetzt?“
„Unter den Umständen“, fuhr sie fort, „und weil Sie eine enge Bezugsperson sind – wären Sie bereit, sie vorübergehend bei sich aufzunehmen? Es gibt formale Schritte, aber für den Moment… könnten sie hier bleiben.“
„Ja“, sagte ich sofort. „Ja. Natürlich.“
Der Polizist trat einen Schritt vor. „Ich bleibe zunächst im Haus. Das ist Standard, bis wir wissen, wie die Eltern reagieren.“
So schnell wurde aus einer Nacht ein neues Leben: Drei Kinder, die eigentlich längst hätten schlafen sollen, wurden – wenigstens vorerst – meine Verantwortung.
Tobias rief kurz nach sechs an. Ich nahm ab, obwohl mein Magen sich zusammenzog.
„Was hast du getan?!“ Seine Stimme war purer Zorn, gemischt mit Panik. „Die Polizei war hier! Die reden von Gefährdung, von Jugendamt, von… Mara, spinnst du?!“
„Deine Kinder sind sechs Kilometer bei minus acht Grad gelaufen“, sagte ich. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. „Sie hatten keine Schuhe. Ben hat an den Zehen weiße Stellen. Lena hat Blasen am Fuß. Sie waren ausgesperrt, Tobias.“
„Die waren nicht ausgesperrt!“ Er klang, als würde er selbst versuchen, es zu glauben. „Die Tür… die muss irgendwie…“
„Wo wart ihr?“
Stille.
„Wo wart ihr?“ wiederholte ich, diesmal härter. „Während deine Kinder nachts durch die Stadt laufen?“
Er atmete schwer. „Wir… wir waren bei einer Feier. Es wurde spät. Wir dachten, die schlafen.“
„Ihr habt drei Kinder allein gelassen und seid feiern gegangen“, sagte ich langsam. „Und du willst mir erzählen, das sei ein Versehen?“
„Wir wollten das nicht!“ Jetzt war er fast flehend.
„Aber es ist passiert“, sagte ich. „Und ich glaube, es ist passiert, weil ihr seit Jahren so tut, als wären Kinder ein Nebenprojekt.“
Katrin riss ihm offenbar das Handy aus der Hand. Man hörte das Fummeln, ihr scharfes Einatmen.
„Du bist doch nur neidisch!“ zischte sie. „Du hast selbst keine Kinder, also willst du unsere!“
Ich spürte, wie etwas in mir kalt wurde. „Ich will, dass sie leben“, sagte ich. „Und dass sie nicht mehr Angst haben müssen, wenn es draußen dunkel ist.“
„Wir machen dich fertig“, fauchte sie. „Du wirst die nie wieder sehen!“
Ich legte auf. Meine Hände zitterten so stark, dass ich das Handy fast fallen ließ.
Im Wohnzimmer erklärte Frau Krüger den Kindern leise, was als Nächstes passieren würde. Dass das nicht ihre Schuld sei. Dass Erwachsene verantwortlich sind. Dass sie jetzt sicher seien.
Und es tat weh, wie oft Kinder so etwas hören müssen, bis sie es überhaupt ein kleines bisschen glauben können.
Mein Handy vibrierte. Nachrichten. Tobias. Katrin. Eine Tante, ein Cousin. Sätze wie kleine Messer: Wie kannst du nur? Familie regelt das intern. Du hast alles zerstört.
Ich blockierte Nummern, eine nach der anderen, und ging zurück zu drei Kindern, die zum ersten Mal seit langer Zeit nicht allein waren.
Die nächsten Tage liefen wie eine schwere, langsame Maschine. Termine. Gespräche. Protokolle. Eine Welt aus Formularen, in der es trotzdem um etwas ganz Einfaches ging: Kinder müssen geschützt werden.
Frau Krüger besuchte die Wohnung meines Bruders. Als sie danach wieder bei mir saß, reichte ihr Blick, um mir zu sagen, dass meine schlimmsten Vermutungen zu harmlos gewesen waren.
„Der Kühlschrank war fast leer“, sagte sie sachlich. „Alkohol, Reste von Lieferservice. Schimmel in der Spüle. Das Bad der Kinder – kaputte Sachen, die seit Monaten nicht repariert wurden.“
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