Als Jonas ein knappes Jahr später mit ölverschmierten Händen in meiner Küche stand und mir seine erste Lohnabrechnung auf den Tisch legte, wusste ich, dass dies nicht mehr die Geschichte von „dem Sohn, der abhaut“, war, sondern die von „dem Sohn, der seinen Weg sucht und wieder anklopft“.
Er war direkt nach der Berufsschule vorbeigekommen. Es war wieder Dezember, wieder dunkel draußen, wieder dieser feuchte Münchner Winter, der einem durch die Jacke kriecht. Ich stellte zwei Teller mit dampfenden Nudeln hin, so wie früher, als er noch Hausaufgaben am Küchentisch gemacht hatte.
„Schau“, sagte er und schob mir das gefaltete Papier hin. „Nicht viel. Aber ehrlich verdient.“
Ich glättete die Lohnabrechnung mit den Fingern, als wäre sie etwas Zerbrechliches. Die Zahl war wirklich nicht groß. Aber ich sah die Stunden dahinter, sah die Blasen an seinen Händen, die Müdigkeit in seinen Schultern.
„Ich bin stolz auf dich“, sagte ich leise. „Nicht wegen der Summe. Wegen dem Weg dahin.“
Jonas zuckte mit den Schultern, aber in seinen Augen lag dieses kleine Aufflackern, das ich kannte. Wie früher, wenn ich seine Bilder aus der Grundschule gelobt hatte.
In den Monaten nach dem Krankenhaus hatte sich unser Kontakt langsam, fast tastend, wieder aufgebaut. Erst Nachrichten, vorsichtig formuliert. Dann kurze Anrufe. Schließlich die ersten Besuche am Wochenende, bei denen wir uns aneinander gewöhnen mussten wie zwei Menschen, die sich neu kennenlernen.
Es war nicht so, dass alles plötzlich leicht wurde. Im Gegenteil.
„Die Kollegen lachen manchmal“, erzählte er eines Abends, als wir auf dem Balkon standen und die Lichter der Stadt betrachteten. „Weil ich nicht jeden Freitag mit in die Bar gehe. Die sagen, ich sei geizig oder langweilig.“
„Und was sagst du?“, fragte ich.
Er rieb sich den Nacken. „Dass ich noch jemanden auszahlen muss“, murmelte er. „Meine Schulden bei der Bank… und bei dir.“
Ich schüttelte den Kopf. „Jonas, ich habe dir nie einen Rückzahlungsplan gemacht.“
„Eben“, antwortete er. „Deshalb mache ich ihn mir selbst.“
Es war einer dieser Momente, in denen mir bewusst wurde, dass Erwachsenwerden nicht an einem Datum hängt. Nicht an einem Auszug, nicht an einer Ausbildung, nicht an einem Bann, den man über seine Mutter verhängt. Es sind kleine Entscheidungen, wieder und wieder.
Natürlich gab es Rückschläge. Im Frühling kam ein Brief von der Hausverwaltung. Jonas hatte eine Nachzahlung für die Nebenkosten, die höher ausfiel als erwartet. Er saß bei mir in der Küche, die Stirn in die Hände gestützt.
„Ich kann nicht alles auf einmal zahlen“, sagte er. „Wenn ich das mache, bleibt mir fast nichts mehr zum Leben.“
Der Reflex in mir schrie: „Ich überweise das schnell, dann hast du Ruhe.“
Die Mutter in mir, die gelernt hatte, loszulassen, atmete tief durch.
„Wie viel kannst du realistisch jeden Monat zurücklegen?“, fragte ich statt dessen.
Er rechnete mit dem Kugelschreiber auf einem alten Einkaufszettel herum, kritzelte Zahlen, strich wieder durch.
„Vielleicht… fünfzig im Monat“, meinte er schließlich. „Wenn ich weniger Zigaretten kaufe und nicht dauernd unterwegs esse.“
„Gut“, sagte ich. „Dann rufst du morgen bei der Hausverwaltung an und bietest genau das an. In deinem Namen. Nicht in meinem.“
Er sah mich an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, den Mond anzurufen.
„Ich? Mit denen telefonieren?“
Ich nickte. „Du schaffst das. Und wenn du willst, sitze ich daneben. Aber reden musst du.“
Am nächsten Tag saß er tatsächlich an meinem Küchentisch, das Handy in der Hand, den Lautsprecher an.
Ich hörte, wie seine Stimme erst zögerlich, dann fester wurde. Wie er erklärte, wie er fragte, wie er einen Vorschlag machte. Als das Gespräch beendet war, ließ er das Telefon auf den Tisch fallen und atmete scharf aus.
„Die haben Ja gesagt“, murmelte er, halb ungläubig.
„Weil du dich gemeldet hast“, antwortete ich. „Weil du Verantwortung übernommen hast.“
In solchen Momenten spürte ich, wie sich das Band zwischen uns neu knüpfte. Nicht mehr nur Mutter–Kind, sondern zwei Menschen, die lernen, ehrlich miteinander zu sprechen.
An einem anderen Abend brachte er eine Dose Ravioli mit und stellte sie neben meinen Topf.
„Für schlechte Zeiten“, sagte er trocken.
„Seit wann denkst du an Vorräte?“
Er grinste schief. „Seit ich weiß, wie sich ein leerer Kühlschrank anfühlt.“
Wir lachten, aber zwischen den Zeilen lag etwas Schweres, das wir beide verstanden. Dass Erfahrung manchmal härter lehrt als jede Erziehung.
Kurz vor Weihnachten saßen wir wieder an der Isar, so wie früher, als er kleiner war und wir Enten gefüttert hatten. Diesmal war es kalt, die Luft biss in den Wangen, der Atem stand als kleine Wolken vor unseren Gesichtern.
„Weißt du noch“, begann Jonas, „als ich ausgezogen bin und gesagt habe, du würdest mich bremsen?“
Ich nickte. Dieser Satz hatte mich damals wochenlang verfolgt.
„Ich dachte lange, du hättest mich wirklich fallen gelassen“, fuhr er fort. „Bis ich im Krankenhaus gemerkt habe, dass du trotzdem neben meinem Bett stehst. Und als ich dann erfahren habe, dass du die Miete ausgeglichen hast… da…“
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