Von Regeln, die versagen, und Menschen, die wir erst spät wirklich sehen

Ich habe eine alleinerziehende Mutter wegen zwölf Minuten zu spätkommen entlassen.

Es war „richtig“, es stand so in den Regeln. Es war fair gegenüber allen, die pünktlich sind.

Und es war der größte Fehler meines Lebens.

Ich heiße Thomas Keller, bin Mitte fünfzig und seit zehn Jahren Schichtleiter in einem großen Logistikzentrum irgendwo im Ruhrgebiet. Wir verpacken und verschicken Waren im Akkord. Die Bänder laufen früh, die Lkw warten nicht, jede Unterbrechung kostet Geld. Um Ordnung zu halten, haben wir eine sehr strenge Pünktlichkeitsregel. Drei Abmahnungen, dann droht die Kündigung. Alle bekommen die Betriebsordnung, alle unterschreiben sie, alle kennen sie.

Lena Bauer, eine unserer besten Packerinnen, bekam ihre dritte Abmahnung letzten Dienstag.

Sie ist Anfang dreißig, schmal, mit diesen müden Augen, die man sonst eher bei Menschen sieht, die schon ein ganzes Leben hinter sich haben. Sie hat nie geklagt. Sie stand nicht rauchend draußen, sie mischte sich nicht in Pausentratsch ein. Sie kam, zog ihre Sicherheitsschuhe an, nickte freundlich und arbeitete schneller und konzentrierter als die meisten anderen.

Bis vor ein paar Wochen.

Das erste Mal kam sie zehn Minuten zu spät. „Der Bus hatte eine Panne“, murmelte sie. Ich gab ihr die erste Abmahnung. Zwei Wochen später waren es zwanzig Minuten. Ihre Haare waren ungekämmt, die Jacke offen, sie wirkte, als hätte sie die Nacht kein Auge zugemacht.

Ich setzte mich mit ihr hin, erklärte ihr ruhig: „Frau Bauer, ich schätze Ihre Arbeit, aber ich kann keine Ausnahmen machen. Wir müssen uns aufeinander verlassen können.“ Die zweite Abmahnung wanderte in die Akte.

Dann kam der Dienstag. Schichtbeginn: 6:00 Uhr. Um 6:12 Uhr rannte Lena durch die Tür. Sie trug nicht ihre üblichen Sicherheitsschuhe, sondern alte Turnschuhe. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.

Ich fragte nicht warum. Ich wollte es gar nicht wissen. Ich wollte nur die Regeln einhalten. Ich bat sie in mein Büro. Die Unterlagen lagen schon bereit.

„Sie wissen, warum wir hier sind“, sagte ich mit der professionellen, distanzierten Stimme, die ich mir über die Jahre angewöhnt hatte.

Lena bettelte nicht. Sie suchte keine Ausrede mit Stau oder verschlafener Wecker. Sie saß einfach da und starrte auf ihre Hände, die leicht zitterten. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Es tut mir leid, Herr Keller. Es kommt nicht wieder vor.“

„Ich weiß, dass es nicht wieder vorkommt“, antwortete ich und schob ihr das Papier hin. „Weil ich das Arbeitsverhältnis beenden muss.“

Sie sah auf das Formular, dann zu mir. Für einen Moment sah ich blanke Angst in ihren Augen. Kein bloßes „Ich verliere mein Einkommen“, sondern diese stille, tierische Panik. Dann erlosch etwas in ihrem Blick. Sie nickte, nahm den Stift und unterschrieb den Aufhebungsvertrag mit zitternder Hand.

„Danke für die Chance“, sagte sie leise.

Sie zog ihre dünne Jacke fester um sich, ging hinaus in die kalte Morgenluft und ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und trank meinen Kaffee, zufrieden, dass ich konsequent gewesen war.

Ich war ein Narr.

Zwei Tage später stand ich mittags in der Kantine und wartete auf die Mikrowelle. Zwei Kollegen von der Verladung, Männer kurz vor der Rente, standen beim Kaffeeautomaten und sprachen gedämpft miteinander.

„Hast du Lena gesehen?“, fragte der eine.

„Keller hat sie am Dienstag rausgenommen“, meinte der andere. „Krass, man.“

„Mit dem Kind, das ist schon hart.“

„Welches Kind?“

„Du weißt das nicht? Sie ist alleinerziehend. Seit die alte Wohnung gekündigt wurde, lebt sie mit ihrem Kleinen im Auto.“

Mein Brötchen fühlte sich plötzlich wie Sand im Mund an.

„Im Auto?“, fragte der erste ungläubig.

„Ja“, sagte der andere leise. „Der Vermieter hat das Haus verkauft, Modernisierung, die Mieten woanders sind explodiert. Sie hat auf die Schnelle keine Wohnung gefunden. Die Notunterkünfte sind voll. Also schläft sie in ihrem blauen Astra irgendwo am Stadtrand. Morgens fährt sie zu einem Fitnessstudio, um sich und den Kleinen zu waschen. Manchmal schickt der Sicherheitsdienst sie weg, bevor sie fertig ist. Deswegen war sie ständig zu spät.“

Ich stand da wie angewurzelt. Das Summen der Getränkeautomaten wurde plötzlich laut wie ein Presslufthammer.

Diese „unzuverlässigen“ Verspätungen? Das war keine Faulheit. Das war eine Mutter, die versuchte, ihr Kind in einem öffentlichen Waschraum in einen halbwegs sauberen Zustand zu bringen, damit er in der Schule nicht ausgelacht wird. Das war kein mangelnder Respekt vor der Firma. Das war eine Frau, die einen Kampf führte, von dem ich nichts wissen wollte.

Und ich hatte ihr die einzige Waffe genommen, die sie noch hatte: ihre Arbeit.

Ich ging zurück in mein Büro, konnte mich aber nicht mehr auf Zahlen, Pläne und Schichtlisten konzentrieren. Ich zog ihre Personalakte wieder aus dem Schrank. Alte Adresse: eine kleine Straße in einem Altbauviertel. Nebenbemerkung: „Haus wird verkauft, Mieter suchen Ersatzwohnung.“ Kein Notfallkontakt. Kein Partner. Kein Hinweis darauf, wohin sie gegangen war.

Ich sah auf das Foto meiner Enkel auf dem Schreibtisch. Sie haben warme Betten, Frühstück, saubere Kleidung. Ich dachte an Lena, wie sie aus meinem Büro gegangen war. Dieser Blick war nicht einfach Angst. Es war das Bewusstsein, dass sie und ihr Kind frieren würden.

Ich meldete mich krank. Formell nannte ich es einen familiären Notfall. Es war eine Lüge und gleichzeitig die ehrlichste Angabe meines Lebens.

Aber wo sucht man nach einem Menschen, der plötzlich aus dem Raster gefallen ist?

Ich fuhr an ihrem alten Haus vorbei. Die Fenster waren leer, ein Schild mit „Sanierung – Zutritt verboten“ hing am Zaun. Dann fuhr ich durch die Wohngebiete, an Parkplätzen vorbei, an den Rändern der Stadt, dort, wo nachts oft Lieferwagen und alte Autos stehen, in denen jemand „nur kurz“ pausiert.

Ich hielt an einem Fitnessstudio am Stadtrand. Vielleicht duschte sie dort. Kein blauer Astra. Ich fragte in einer Beratungsstelle nach, ob sie etwas von einer alleinerziehenden Mutter mit kleinem Kind wüssten, die im Auto schläft. Die Frau hinter dem Tresen sah müde aus. „Wir haben viele Fälle“, sagte sie nur. „Die Notunterkünfte für Familien sind voll. Wir versuchen, für alle Lösungen zu finden, aber es dauert.“

Gegen 20 Uhr war es stockdunkel. Das Thermometer im Auto zeigte minus zwei Grad. Mein Atem beschlug die Windschutzscheibe, obwohl die Heizung lief. Ich wollte schon aufgeben und nach Hause fahren. Ich bog auf den Parkplatz eines großen Supermarktes am Stadtrand, um das Navi einzustellen.

Ganz hinten, außerhalb der Lichtkegel der Laternen, sah ich sie.

Einen verbeulten, blauen Opel Astra, weit weg von den anderen Autos, dicht an eine Böschung geparkt. Motor aus. Die Scheiben von innen beschlagen.

Mein Herz begann zu hämmern. Ich parkte meinen Wagen in einiger Entfernung und ging langsam über den knirschenden Frost. Jeder Schritt klang viel zu laut.

Ich trat an die Beifahrerseite. Innen war alles voll mit Tüten, Decken, Jacken. Ich klopfte an die Scheibe.

Bewegung. Ein erschrockener Schatten. Lena fuhr herum, griff nach irgendetwas – einer Haarbürste und hielt sie in der Hand, als müsste sie sich verteidigen. Als sie mein Gesicht erkannte, erstarrte sie. Sie öffnete das Fenster einen Spalt. Kalte, abgestandene Luft strömte mir entgegen.

„Herr Keller?“, flüsterte sie. „Ich… ich bringe die Arbeitskleidung zurück. Ich hatte nur noch nicht… ich wollte morgen früh… Wenn ich ein bisschen Geld für Benzin kriegen könnte, dann…“

„Frau Bauer, machen Sie bitte die Tür auf“, sagte ich.

Sie zögerte, dann drückte sie langsam den Türknopf hoch. Als ich die Tür öffnete, traf mich die Realität wie ein Schlag. Auf der Rückbank, tief in eine Burg aus Decken und alten Jacken gekuschelt, lag ein kleiner Junge. Vielleicht sechs Jahre alt. Er trug eine Mütze, Handschuhe und klammerte sich im Schlaf an eine abgenutzte Spielfigur.

„Geht es ihm gut?“, fragte ich heiser.

„Er friert“, sagte sie, und diesmal schaffte sie es nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. „Der Tank ist leer. Ich kann die Heizung nicht mehr anmachen. Ich wollte nur überlegen, wo wir noch hin können. Ich… ich wollte keine Probleme machen.“

Ich sah sie an. Diese Frau, die ich an der Stechuhr gemessen hatte. Ich hatte sie auf ihre zwölf Minuten reduziert.

„Sie bringen mir nichts zurück“, sagte ich.

Sie zuckte zusammen. „Ich weiß, ich hab alles falsch gemacht. Aber bitte, ich bringe wirklich alles…“

„Sie kommen zurück zur Arbeit“, unterbrach ich sie. „Wenn Sie wollen. Ich werde mit der Personalabteilung und dem Betriebsrat sprechen. Wir finden einen Weg. Diese Kündigung… das war ein Fehler.“

Sie starrte mich an, als hätte ich in einer fremden Sprache gesprochen. „Aber… die Regeln. Die Abmahnungen.“

„Regeln sind wichtig“, sagte ich, und meine Stimme brach fast. „Aber sie dürfen uns nicht blind machen. Und das ist bei mir passiert.“

Ich holte meinen Geldbeutel heraus. Ich bin kein reicher Mann, aber ich habe immer etwas Notgeld im Portemonnaie. Ich zählte mehrere Scheine ab und hielt sie ihr hin. „Hier. In der Nähe ist ein kleines Hotel an der Ausfallstraße. Es ist einfach, aber warm. Nehmen Sie sich für ein paar Nächte ein Zimmer. Lassen Sie Ihren Sohn baden. Bestellen Sie ihm eine Pizza. Und schlafen Sie einmal, ohne auf das Knacken im Auto hören zu müssen.“

„Ich kann Ihnen das nicht zurückzahlen“, brachte sie hervor.

„Ich verlange das nicht als Kredit“, sagte ich. „Ich bitte Sie um Verzeihung.“

Ich blieb, bis sie den Motor mit den letzten Tropfen Benzin gestartet hatte. Dann fuhr ich hinter ihr her, bis wir das kleine Hotel erreichten. Ich wartete im Auto, bis ich sah, wie sie in der Rezeption standen, wie sie einen Schlüssel bekamen. Erst, als in Zimmer 12 im ersten Stock Licht anging und ein Schatten an der Gardine vorbeihuschte, fuhr ich nach Hause.

Am nächsten Morgen rief ich in der Personalabteilung an. „Wir müssen reden“, sagte ich. Am Nachmittag saßen wir mit der Personalleiterin und dem Vorsitzenden des Betriebsrats zusammen. Ich erzählte ihnen alles, von den Verspätungen, von meiner starren Haltung, von dem Auto auf dem Parkplatz, von dem schlafenden Jungen unter Decken.

„Ich werde unsere Regeln nicht mehr blind durchsetzen“, sagte ich zum Schluss. „Wir können Anforderungen haben, aber wir müssen auch hinschauen, bevor wir jemanden fallen lassen.“

Wir einigten uns darauf, künftig bei Härtefällen genauer hinzusehen, Gespräche anzubieten, Beratung zu vermitteln. Es wurde ein kleiner Sozialfonds eingerichtet, in den Führungskräfte und Mitarbeitende freiwillig einzahlen konnten, um Kolleginnen und Kollegen in akuten Notlagen zu unterstützen. Und wir beschlossen, dass niemand mehr allein vor einem Formular sitzen sollte, wenn eigentlich zuerst ein warmes Gespräch nötig wäre.

Lena kam drei Tage später zurück. Pünktlich, mit einer geliehenen, sauberen Jacke und einem vorsichtigen Lächeln. Wir hatten eine Lösung gefunden, wie sie offiziell weiter beschäftigt werden konnte. Eine Kollegin half ihr, Kontakt zu einer Beratungsstelle aufzunehmen, um eine Übergangswohnung zu finden.

Wenn sie an diesem Tag zehn Minuten zu spät gewesen wäre, weil der Bus Verspätung hatte oder weil ihr Sohn vor lauter Husten nicht schlafen konnte, ich hätte sie in mein Büro gebeten, ihr einen Tee gemacht und gefragt: „Was brauchen Sie gerade? Wie können wir helfen?“

Wir leben in einer Zeit, in der wir ständig auf Zahlen, Vorgaben und Effizienz starren. Wir zählen Minuten, Pakete, Fehlzeiten. Aber während wir auf die Uhr schauen, übersehen wir leicht den Menschen dahinter. Wir wissen nicht, ob jemand aus einem warmen Bett kommt oder aus einem kalten Auto. Wir wissen nicht, ob jemand einfach trödelig ist oder gerade versucht, das eigene Leben irgendwie zusammenzuhalten.

Seien Sie klar. Seien Sie fair. Aber vor allem: Bleiben Sie menschlich.

Eine Regel friert nicht. Eine Tabelle zittert nicht.

Menschen schon.

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